: Versprengte Verwandte
■ Comic goes français – und ist fast kein Comic mehr: Thomas Otts Klein-Mafiosi-Geschichte „La Grande Famiglia“ bei L'Association
Deutschland war immer ein Importland für Comics, sei es für Disney oder Marvel, sei es für die Alben aus der franco-belgischen Schule. Da auf den Albenrausch zu Beginn der frühen Neunziger nun der Remittentenkater gefolgt ist, haben viele Verlage ihren Ausstoß eingeschränkt, beziehungsweise hecheln sie nur noch Trends hinterher: Merchandising-Ableger von bekannten Film- oder Fernsehproduktionen, vor zwei Jahren die Mangawelle, in jüngster Zeit die billigen Hefte statt gebundener Alben.
Zugleich gibt es aber eine ganz andere Bewegung. Mittlerweile werden Comics deutschsprachiger Autoren auf Französisch erstveröffentlicht: die ironische Hommage an die Postmoderne „Salut Deleuze!“ der Hamburger Jens Balzer und Martin Tom Dieck machte den Anfang, jetzt folgt „La Grande Famiglia“ von Thomas Ott. Für „Salut Deleuze!“ (Freon Edition 1997) muß man über Französischkenntnisse verfügen und braucht einen gut sortierten Comicladen, dem Band „La Grande Famiglia“ liegen weltmännisch-schweizerisch eine italienische, englische und deutsche Übersetzung bei, und er wird von der Edition Moderne in Deutschland vertrieben.
„La Grande Famiglia“ erzählt die Geschichte der komplett erfolglosen Klein-Mafiosi-Familie „La Lupara“ vom Ururgroßvater Angelo bis zum Ich-Erzähler Marcello. Inzest, Dummheit, Unfähigkeit und Pech machen jede Anstrengung zunichte, zu den großen Familien aufzustoßen. Aber welche Tochter eines Mafiosi heiratet denn auch einen irischen Polizisten? Und welcher Gorilla meint, ungestraft die Tochter des Paten schwängern zu dürfen?
Die Berichte vom raschen Ableben der Angehörigen lesen sich wie aus einen Handbuch für Killer: Beton, Schrotflinte, Sprengstoff und das Hackebeil. Dank der Vermehrungsfreude des Ururgroßvaters tauchen glücklicherweise überall versprengte Verwandte auf, so daß die Geschichte nicht gleich zu Ende geht.
Thomas Ott, dessen Schabkartontechnik ihm nicht nur Preise eingebracht hat, sondern auch das Lob von KollegInnen wie etwa Anke Feuchtenberger, hat mit „La Grande Famiglia“ ganz neue Wege beschritten. Der Band fußt auf einer Ausstellung beim Festival von Luzern, in der Ott seine wie Familienfotos gezeichneten Ganovenporträts in einer heruntergekommenen Pizzeria aushängte.
Vieles am Interieur ist unscheinbar: Kitschpostkarten, Heiligenbildchen, Fußballdevotionalien, Chiantiflaschen. Daneben aber ein Paket, dessen Inhalt man besser nicht erfragt, oder eine Pistole. Manchmal gibt die Geschichte dazu Auskunft, manchmal sind die Fotos nur Kommentar zur Tristesse der kleinen Gaunerexistenzen.
Das Interieur wurde fotografiert und liegt nun als Band vor. Ist das noch ein Comic? Oder die Rückführung von Comicelementen in die zeitgenössische bildende Kunst? Ein Realkunstfotocomic? Ott jedenfalls hat ein wunderbar kurzweiliges, schön ausgestattetes Bändchen vorgelegt. Hoffentlich gibt es bald mehr schweizerisch- deutsch-belgisch-französische Joint-ventures. Martin Zeyn
Thomas Ott: „La Grande Famiglia“, L'Association 1998. Französisch, mit einer deutschen Übersetzungsbroschüre von Waltraud Spohr. Zu beziehen: Edition Moderne, c/o Tom Produkt, Telefon: (040)-433152
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