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Der Großstadtmelancholiker

Vor 100 Jahren wurde George Gershwin geboren. Der New Yorker avancierte in seinem kurzen Leben zum wichtigsten Musiker der Moderne Amerikas. Ein Portrait  ■ von Jan Feddersen

Ein Wunderkind zu sein hatten seine Eltern von ihm nicht erwartet. Daß er es allerdings zu etwas bringen würde, das gehörte schon zum Erziehungsprogramm von Morris und Rose Gershvin. Beide waren Ende des vorigen Jahrhunderts aus St. Petersburg ins gelobte Land Amerika emigriert. In ihrer alten russischen Heimat hatten sie ihr Auskommen, aber als Juden keine Rechte.

In den USA angekommen, hatten die Gershvins keine Mühe, ihre vier Kinder satt zu bekommen. Morris arbeitete so virtuos wie lebenstüchtig mal als Wirt, Tabakhändler, Hoteldirektor, Buchmacher, Bäcker, Gamaschendesigner. Von seinen Einkünften blieb stets genug übrig, daß Mutter Rose aus Angst vor der Inflation erkleckliche Reste der Lohntüte ihres Mannes in Edelsteinen anlegen konnte. Sogar ein Dienstmädchen konnte der Familie immer zur Hand gehen. Nein, arm waren die Gershvins nicht. Worunter sie schon in Rußland litten, war nur, daß sie als Juden allem Fleiß zum Trotz nicht in die besseren Kreise aufsteigen konnten.

New York war der Ort, an dem sie leben wollten. Es war die Metropole der Neuen Welt, eine, deren Bewohner allen Herkünften zum Trotz miteinander über die Runden kommen mußten – und Einwanderer fast alle. Die Stadt war mitten im Aufbruch; die ersten Hochhäuser wurden hochgezogen, die ersten Elendsquartiere entstanden gleich mit.

Es herrschte eine Atmosphäre glühender Vergänglichkeit und hysterischer Zukunftsfreude. Wer Talent und Können hatte, fand in New York alle Chancen, Karriere zu machen: Multikulti war Programm. George Gershwin hatte Klavier spielen gelernt, aber Ambitionen, daraus Geld zu machen, hatte er zunächst keine. Sein Bruder Ira war es, der sich darin versuchte. Als er Bruder George, der eher als Sportler und ungehobelter Jungspund pubertierte, spielen hörte, schloß er den Klavierdeckel: Der war einfach besser.

George reüssierte in der Tin Pan Alley – einer Straße im Straßendschungel Manhattans, in dem die meisten Musikverlage der USA angesiedelt waren. Geschult in den Kneipen und Bars der Stadt, wußte er, versiert neben dem Ragtime und dem Blues auch in anderen Musiktraditionen der Emigrantengruppen, worauf es beim Vorspielen der Kompositionen ankam: auf Rhythmik, auf schnellen Konsum, auf die richtigen Tempi – und vor allem auf Melodie. Die Songs mußten erinnerlich bleiben, tauglich, mitgesungen zu werden. Mit anderen Worten: Sie mußten sich gut amerikanisch am Markt beweisen – im Sinne von „I Got Rhythm“.

Sein erster Hit war schließlich „Swanee“, gesungen vom schwarzen Entertainer Al Jolson in seiner Show „Sinbad“. Kollegen attestierten Gershwin ein feines Gespür. Spott, wenigstens mildes Unverständnis hatten sie indes nur übrig für die Neigung ihres kaum volljährigen Kollegen, trotz der Fron im Dienste der Unterhaltungsindustrie weiterhin sich an abendländischen Klassikern wie Bach, Liszt oder Dvorák abzuarbeiten.

Bis zu seinem Tod im Sommer 1937 machte Gershwin eine Karriere, die ihn selbst und seine Familie die besseren Zirkel der Gesellschaft kennenlernen ließ. Mehr noch: Der Tondichter wurde zum Prototyp eines metropol orientierten Amerikaners, der einen modernen Lebensstil pflegte – und bediente.

Seine Melodien sind melancholisch, selbst an jenen Stellen, die optimistisch klingen. „The Man I Love“, vor allem in der Version von Billie Holiday, hat nichts anderes als die Einsamkeit in den Großstädten zum Thema, die Angst davor, übrigzubleiben, keine Familie zu haben, niemanden, der einen braucht, keinen, der sagt, daß man willkommen ist. Aber auch Melodien, die die Nervosität einer Lebensweise spiegeln, welche ohne Kündigungsschutzfristen, geregelte Zukunftsperspektiven auskommen muß.

Fast alle Gershwin-Kompositionen haben dies zur heimlichen Überschrift: In der Freiheit angekommen, ratlos. Sein Bruder Ira verfaßte dazu die passenden Texte, ironischen Botschaften gleich, aus einem rauhen und hastigen Milieu, das Menschen aus der Provinz anzieht und ängstigt.

Gershwin profitierte vom Moloch New York. Seine Tonideen verarbeitete er nie zu süffiger Folklore. Die meisten seiner Lieder waren nicht eben gefällig geschrieben, die Noten oft so gesetzt, daß man singen können mußte, um sie zu bewältigen.

Auch sein späteres sinfonisches Werk – vor allem die „Rhapsody in Blue“, mit der er am 3. Dezember 1925 den ersehnten Einzug in die ehrwürdige Carnegie Hall und damit in die Wohnviertel der Reichen und Erfolgreichen feierte – lebte von der Verschmelzung musikalischer Ströme. Gershwin war ein amerikanischer, uneuropäischer Komponist, offen für fremde Zungenschläge, allein schon, um sich keinen Markt zu verderben.

Und einer, der bei den Schwarzen, zumindest bis zu seiner romantisierenden Oper „Porgy and Bess“, viel Kredit genoß. Ella Fitzgerald beispielsweise soll nachgerade gierig darauf gewesen sein, Gershwin-Material zu interpretieren: „Es klingt ja nicht weiß, was er gemacht hat. Es ist amerikanisch.“ Er war dennoch kein Opportunist, keiner, der um jeden Preis Zuckerstücke bereithielt.

Der späte Gershwin, der Komponist, der sich seiner Schlagerproduktionen nicht schämte, aber trotzdem lieber gepflegteres Liedgut schrieb, war modern. Es war Musik für die Tanzpaläste der New Yorker Hipster, für die Jeunesse dorée. Mit Arrangements, die schräg klangen, und Instrumentierungen – spitze Klarinetten, leicht verschobene Wechsel –, die ungewöhnlich waren.

Gershwin machte heftig mit beim Vergnügungsfieber, das New York vor der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre im Griff hatte. Ein Yuppie und Karrierist in einem. Und wie viele der heutigen Großstädter träumte er davon, sich irgendwann aufs Land zurückzuziehen. Nach der Probe aufs Exempel zog er indes wieder zurück in die hektische Stadt. Typisch: Ihm muß das Gefühl gefehlt haben, ins Kino oder in eine Bar gehen zu können, wann er wollte.

So professionell wie inspiriert Gershwin sein Handwerk betrieb, er scheiterte doch an einem der modernsten Bollwerke des Showgewerbes. In New York noch gewöhnt, von morgens bis abends sozusagen mitten im Zeitgeist zu schwimmen und sich bei Aufführungen seiner Stücke um den letzten Schliff mühen zu können, mußte er in Hollywood einsehen, daß er dort nur als Komponist gefragt war, der sich einen Dreck zu scheren hat darum, wie sein Produkt in einen Film eingeflochten wird. An der Westküste war es um das rechte metropole Flair auch nicht weit her: Los Angeles, ein ausuferndes Dorf ohne Zentrum, darin Hollywood, ein reiner Produktionsstandort.

Mehr als tausend Lieder und Instrumentalstücke hat Gershwin während seiner nur knapp 39 Lebensjahre zu Papier gebracht. Viele Stars hätten ohne seine Arbeit nicht so steil Erfolg haben können, Fred Astaire zum Beispiel. In den USA gehören seine Kompositionen zum Kulturerbe – wie jene Mozarts in Österreich.

Wobei nicht unerwähnt bleiben darf, daß Gershwin derlei Erfolg in Europa wohl nicht beschieden gewesen wäre. Davon abgesehen, daß in hiesigen kulturellen Szenen immer noch strikt nach E- und U-Musik geschieden wird, wäre der Einwanderersproß vor allem an den Erwartungen seiner Konsumenten gescheitert: Schlager im mitteleuropäischen Sinne hat Gershwin nicht geschrieben, keine stumpfen Marschfoxerzeugnisse, die nichts als Angst vor dem fremden Klang offenbaren. Eher frühe Popstücke, die den Siegeszug des Rock'n'Roll mit ebneten.

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