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■ NachschlagOst-Zillogramm in der Zeitnische: „Sinn und Form“ wird 50 Jahre alt

Das Zeitalter der Beschleunigung hat scheinbar sogar die gediegen konservative Zeitschrift Sinn und Form erreicht, obwohl die so betont alles Modische ignoriert und immer noch so aussieht wie früher. Wie sonst ist es zu erklären, daß ein Auswahlband zum 50. Jubiläum schon jetzt fertig ist, obwohl das erste, von Peter Huchel betreute Heft (Thema damals: Bertolt Brecht) erst 1949 erschien?

Im Brecht-Forum in der Chausseestraße wurde das von Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt zusammengestellte Kompendium jetzt erstmals vorgestellt. Seine Auswahl, die aus insgesamt 60.000 Seiten Sinn und Form 600 macht, verzichtet auf historische Repräsentanz und sucht nach dem, was sich auch „in der Zeitlosigkeit bewährt“ und eine „veränderte geistige Grundströmung“ überdauert. Vor solchen Begriffen nicht zurückzuschrecken ist das Schöne an Sinn und Form. Der Titel, der das weltanschauliche Nachkriegszeitpathos gänzlich unironisch bewahrt, ist durchaus Programm geblieben, auch nach der Zäsur von 89/90, die für Kleinschmidt, Chefredakteur seit 1990, alles andere überragt. Es ist klar, daß von 40 Jahren DDR-Zeitschrift nicht viel bleibt, wenn man den Resonanzraum DDR abzieht, und so sind weit mehr als die Hälfte der Beiträge im Sammelband aus der Zeit nach 1990. Von „nachgeholten Diskursen“ sprach Durs Grünbein bei der Buchpräsentation. Heidegger, Gadamer, Jünger und vor allem die bis dato völlig unbekannte französische Philosophie habe Sinn und Form den östlichen Lesern nach der Wende nähergebracht. Damit stehe die Zeitschrift sympathischerweise wieder in einer „Zeitnische“ – ähnlich wie vor 89, als sie für Grünbein eine Art Oszillogramm östlicher Erregungen und Möglichkeiten darstellte. Oder soll man sagen: Ein Ost-Zillogramm? Der Lyriker Heinz Czechowski, seit 1971 Beiträger von Sinn und Form, las Gedichte und sprach über die merkwürdige doppelte Bezugsgröße, die die Zeitschrift in der DDR war: Ort möglicher Veröffentlichung, an dem manchmal sogar ansatzweise Debatten stattfanden, aber zugleich auch Teil des „Feindbilds“. Man mußte Schranken überwinden, um daran teilzuhaben. Das fehlt Czechowski heute. „Wogegen schreibt man an? Es bleibt nur das eigene Selbst. Doch die Selbstbegegnung ist irgendwann erschöpft, und dann geht man vor die Hunde.“ Jörg Magenau

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