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Der alte Kanzler weint, der neue singt

■ Bei den Einheitsfeiern rührte Schröder Helmut Kohl zu Tränen und versuchte sich als Rocksänger

Hannover (taz) – War es nun einfach Rührung über die lobenden Worte des Amtsnachfolgers? Oder trieb Helmut Kohl ein später Schmerz über verlorene Wahl und Kanzlerschaft das Wasser in die Augen? Die Tränen jedenfalls, die ihm am Samstag während der offiziellen Feier zum 8. Jahrestag der deutschen Einheit aufstiegen, konnte der noch amtierende Bundeskanzler nur schwer verbergen. Zum Ende seiner Rede im Kuppelsaal der hannoverschen Stadthalle hatte Gerhard Schröder – als Bundesratspräsident der Gastgeber der diesjährigen Einheitsfeier – von der Bühne herab Helmut Kohl direkt angesprochen: „Ihnen, Herr Bundeskanzler, möchte ich noch einmal meinen Respekt aussprechen, Respekt für Ihren Anteil an der wiedergewonnenen staatlichen Einheit, Respekt für Ihren Anteil am Aufbau eines vereinigten Europa“, sagte der künftige Regierungschef salbungsvoll. „Ich bin sicher, die Menschen in Deutschland werden das nicht vergessen“, fügte Schröder dann hinzu, und da war es um Kohls Fassung geschehen. Augenblinkern half nicht mehr, verstohlen strich sich der Kanzler mit der Hand später die Tränen aus dem Gesicht.

Womöglich hat zur Rührung des Kanzlers aber auch die Musik des Komponisten Bardo Henning beigetragen. Dessen drei Stücke klangen, allem „Hymnenstreit“ zum Trotz, hinreichend salbungsvoll. Für das erste, das neben der bundesdeutschen und der DDR- Hymne auch swingend das Musical „Good-bye Johnny“ zitierte, hatte Kohl drei Händeklatscher über. Wolfgang Schäuble dagegen sparte nicht mit Beifall für das umstrittene Werk. Als Big Band, Streicher und Chor der hannoverschen Musikhochschule einen Bogen von Hildegard von Bingen bis zu lateinamerikanischen Rhythmen schlugen, wippte auch der Kanzler mit.

Der größte Auftritt des künftigen Bundeskanzlers fiel schon in die Zeit nach Mitternacht, als der Einheitstag streng genommen bereits vorbei war. In der Halle 2 des hannoverschen Messegeländes, deren Garagenakustik allein die Scorpions einigermaßen überwinden konnten, stand Schröder auf der Bühne. Beim großen Finale mit BAP und den Prinzen stimmte er den „Wind of Change“ an – ein paar Tanzrunden mit Doris Köpf drehend, die als Schirmherrin des Benefiz-Rockabends fungierte. Zumindest für die Umgangsformen der Republik war diese Einheitsfeier eine Zäsur: Der alte Kanzler weint, der neue singt vom „Wind des Wechsels“. Jürgen Voges

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