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Gummi geht okay

■ "Plattform" ist eine Austellung, die vor allem den Fetisch Hauptstadt inszeniert. Doch auch Schuhe sind sehr beliebte Objekte der Begierde

Susanne Klein führt ihre Schuhe vor. In raschem Wechsel werden die Paare an- und ausgezogen. Die Videokamera nimmt dabei die Beine der Künstlerin von den Knien ab bis zu den Fußspitzen ins Visier. Jedes Paar wird eingeordnet und kommentiert. Da gibt es die Kategorie schöne Schuhe, andere stammen aus der Familie der alltäglichen Schuhe, die dritten gehören unverkennbar zur Gruppe der gnaz profanen Gummistiefel, obwohl sie möglicherweise auch unter der Gattung Arbeitsschuhe einzuordnen wären. Jedesmal sagt Klein, wie alt die Schuhe sind, wo sie sie gekauft oder hat machen lassen, ob sie mit den Schuhen zufrieden ist, ob sie bequem sind. Aber können die schwarzen Plateaustiefel mit dem siebzehn Zentimeter hohen Absatz (Kategorie schöne Schuhe), die Susanne Klein von der Londoner Little Shoe Box bezog, bequem sein? Nein. Sie sind nur funktional.

Susanne Klein ist Schuhfetischistin. Das wirklich verblüffende Video ist im Postfuhramt an der Oranienburger Straße zu sehen. (Nachts kann man also draußen auf der Straße beobachten, wie ähnliches Schuhwerk vorbeistakst.) Es gehört aber nicht, wie man aufgrund der Örtlichkeit vermuten könnte, zum Programm der berlin biennale. Oder jedenfalls nur bedingt. Es ist Teil der NEID Videoshow, die auf der „Plattform“ läuft.

Zur „Plattform“ gelangt man über den Hintereingang des Postfuhramts, von der Auguststraße aus. Anders als vorne, ist hier der Eintritt frei. „Plattform“ ist eine von der Kuratorin Ulrike Kremeier konzipierte, eigenständige Sektion von Berlin/Berlin. Sie will das, was sich in der biennale international kompatibel gibt, wieder auf den Standort Berlin zurückführen. Und so wird Philipp Johnsons verloren gegangenes Ohr hier wohl wieder auftauchen.

Auch High Heels können funktional sein

Als ein richtiger Fetischist des Kunstbetriebs, so läßt sich zu Klaus Biesenbachs Strategie der generösen, also mitfinanzierten Einladung sagen, läßt man ein solches Paar Schuhe nicht links liegen, sondern verleibt sie seiner Sammlung ein. Wenn man also von seiner Wanderung durch die Kunst-Werke und das vordere Postfuhramt erschöpft und voller noch ungeordneter Eindrücke ist, sollte man sich nicht in die dortige weiße, tüllumwehte Polstergruppe werfen, sondern den Weg nach hinten antreten. Dort bietet sich das weißbezogene Polsterbett der NEID-Lounge an, um entspannt eine Reihe sehenswerter Videos zu betrachten.

NEID ist ein Kollektiv von AutorInnen, PerformerInnen und Musiker-, Künstler- und FotografInnen, zu dessen Aktivitäten unter anderem die Herausgabe einer lacan-freud-lastigen Zeitschrift gleichen Namens zählt. Auch der Vorderraum ist kein eigentlicher Ausstellungs-, sondern ein Lese- und Rechercheraum. Im üblichen tautologischen, gegeninstitutionellen Jargon („Bedingungen kultureller Produktion“, „spezifische Arbeitsweisen“, „konkretes Interesse“, „Artikulationsterrain“) wird dem Besucher erklärt, was die Absichten der „Plattform“-Kooperationspartner – außer NEID noch convex.tv, Dave Hullfish Bailey, Erik Göngrich, Tara Herbst, MIKRO, die Introgroup und die Raumerweiterungshalle – und ihrer hier dokumentierten Projekte und Veranstaltungsreihen sind.

Real muß man sie teils über die ganze Stadt verstreut aufsuchen. Das sollte man ohne Umschweife auch tun. Und trotz seines Jargons der Uneigentlichkeit sollte man auch den zehnseitigen Zeitungsflyer studieren: weil er tatsächlich alle bekannteren Peripherieprojekte versammelt, Osmos, Büro Berlin, Pit Schultz und und und. „Plattform“ ist zwar auch die Inszenierung des Fetisch Berlin. Aber, das muß man zugeben, er sieht hier hinten ganz anders aus als vorne. Hier greift man am besten zur Gruppe Gummistiefel, um die Wanderung anzutreten. Vorne sind die Lackstiefel okay. Manche finden Gummi geiler. Brigitte Werneburg

Bis 3.1. 99 im Postfuhramt, Zugang Auguststraße 2

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