Kommentar: Hilflose CDU
■ Statt Tatkraft zeigt sie Auflösungserscheinungen
„CDU goes Kiez“ verkündete Generalsekretär Volker Liepelt gestern als neue Devise. Nach der herben Niederlage bei der Bundestagswahl wolle die Union in der Hauptstadt soziale Verantwortung zeigen, Bürgernähe praktizieren und die Mietengerechtigkeit wieder in den Vordergrund rücken. Während Liepelt im Preußischen Landtag saß, mußte jedoch fast zeitgleich im Roten Rathaus sein Parteichef Eberhard Diepgen verkünden, daß sein Wirtschaftssenator nun doch aus dem Amt scheidet, und einräumen, daß sein Innensenator bald nach Brandenburg fliehen könnte. Fast schon sarkastisch mutet da im Kontrast zu den Rückzügen im Senat die neue Kiezbezogenheit als Lehre aus der Wahlschlappe an. Als wolle die Berliner CDU bekennen: Wir sind auf Provinzniveau abgerutscht. Große Politik Fehlanzeige.
Nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Kohl ringt die Bundes- CDU um einen neuen Weg, Wolfgang Schäuble tritt die Flucht nach vorn in den Osten der Republik an und will auch ehemaligen SED- Parteimitgliedern den Weg in die Christenunion ebnen. Auch in Berlin rumort es unüberhörbar. Die Jungen wollen den Kurs verändern, die Konservativen verstärken ihren Druck auf Diepgen, der CDU droht im nächsten Abgeordnetenhaus eine schwache Oppositionsrolle – nur findet die Landespartei keinen Weg aus der Misere.
Den amtsmüden Senator Pieroth ziehen zu lassen hat mit einer Kurskorrektur nichts zu tun. Einen Senator, der bereits seit mindestens einem Jahr seinen Sessel vererben will, aus der Pflicht zu entlassen, reicht nicht einmal mehr zu einem Signal des Aufbruchs. Zumindest Pieroths Nachfolge hätte Diepgen in einem Atemzug geklärt haben müssen.
Die Berliner Union findet ihr Gleichgewicht zwischen Großstadtpartei und Bürgernähe nicht mehr. Hat sie in den vergangenen beiden Jahren mit ihrem nun möglicherweise scheidenden Innensenator Jörg Schönbohm auf die Karte der inneren Sicherheit gesetzt, mußte sie nun feststellen, daß die innere Sicherheit nicht das ist, was die meisten BerlinerInnen und Berliner im Herzen bewegt. Die Union ist – so muß sich die Lehre lesen – glatt am Thema vorbeigeschlittert.
Wenn sie jetzt nach einem neuen Profil sucht, darf das kein Zurück sein. Berlin ist nicht mehr allein die Summe seiner Kieze. Diese Devise offenbart nur die Hilflosigkeit einer Partei, in der eine inhaltliche – wie auch personelle – Erneuerung bislang keinen Raum hatte. Barbara Junge
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