Nachgefragt: Azubis gesucht!
■ Anwaltspräsident Henning Hübner: Schulabgänger oft zu unqualifiziert
Immer mehr Lehrlinge gehen zur Ausbildung nicht in den Betrieb, sondern in die Schule. Sie verschwinden aus der Statistik des Arbeitsamtes – das tatsächliche Ausmaß der Lehrstellen-Misere wird verschleiert. Besonders drastisch ist die Lage in Bremerhaven. Von 2.167 Jugendlichen fanden im vergangenen Jahr nicht einmal die Hälfte (1.027) eine Lehrstelle in einem Betrieb. Die Arbeitgeber wollten nicht einstellen, behauptet das Bremerhavener Arbeitsamt. Die Qualifikation der Schulabgänger habe nachgelassen, hält Dr. Henning Hübner dagegen. Er ist Anwalt in Bremerhaven und Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer Bremens.
Herr Dr. Hübner, im Land Bremen gibt es etwa 1.200 Anwälte. Bei der Anwaltskammer sind im vergangenen Jahr aber nur rund 120 Ausbildungsverträge für den Beruf der Anwaltsfachangestellten abgeschlossen worden. Sind Anwälte Ausbildungsmuffel?
Nein, ganz und gar nicht. Sie dürfen hier nicht die absolute Zahl der Zulassungen zugrunde legen. Sie müssen davon ausgehen, daß etwa 30 bis 35 Prozent nur Anwälte im Nebenberuf sind.
Wieviele Angestellte und Azubis sind in ihrer Kanzlei beschäftigt?
Ich habe zwei Auszubildende und zwölf Angestellte.
In Bremerhaven ist die Ausbildungssituation besonders drastisch. Nicht einmal 50 Prozent der jugendlichen Bewerber haben einen Ausbildungsplatz in einem Betrieb gefunden. Wie stehen die Chancen, eine Lehrstelle im Anwaltsbüro zu finden?
Wir suchen dringend. Daß wir gerne einstellen, kann ich trotzdem nicht sagen. Wir haben Schwierigkeiten, qualifizierte Auszubildende zu bekommen.
Woran liegt das?
Die Kenntnisse der deutschen Sprache sind zum Teil katastrophal. Ein Anwalt äußert sich nunmal in Form von Briefen und Schriftsätzen. Es geht einfach nicht, wenn in einem Schreiben Fehler sind. Auch die Grundrechnungsarten beherrschen die Auszubildenden nicht immer. Es gibt natürlich auch sehr gut qualifizierte Auszubildende, aber die sind rar. Einige Ausbilder schicken ihre Lehrlinge nach Feierabend zum Deutschunterricht in die Volkshochschule.
Wenn Sie einen Lehrling suchen, wieviele Jugendliche bewerben sich auf eine Stelle?
Im vergangenen Jahr kamen etwa 40 Bewerbungen auf eine Stelle, 25 haben wir sofort aussortiert. Früher habe ich in der Regel Realschüler oder Handelschüler eingestellt. Mittlerweile reicht diese Qualifikation nicht mehr. Aufgrund der mangelnden Kenntnisse sind wir mittlerweile dazu gezwungen, Abiturienten zu nehmen.
Sind Abiturienten nicht überqualifiziert?
Im Grunde ja, aber der Beruf der Anwaltsgehilfin wird unter Abiturienten immer beliebter. Er bietet Aufstiegschancen und ein breites Betätigungsfeld.
Beim Arbeitsamt Bremerhaven sind tatsächlich nur 25 Anwaltsfachangestellte arbeitslos gemeldet. Welche Möglichkeit hat ein Anwaltsfachangestellter nach der Ausbildung?
Der Beruf ist ein sogenannter Schlüsselberuf. Eine Anwaltsfachangestellte kann im Grunde genommen in jedem Büroberuf arbeiten. Banken, Versicherungen und auch die öffentliche Verwaltung stellt Anwaltsgehilfinnen ein.
Sie sagen, sie sind dazu gezwungen, Abiturienten einzustellen, obwohl sie überqualifiziert sind. Was muß sich Ihrer Meinung nach ändern, damit zum Beispiel auch Anwälte mehr Auszubildende einstellen und Haupt- und Realschüler wieder Chancen haben?
Die schulische Ausbildung muß verbessert werden. Dann könnten wir darauf aufbauen und wieder mehr einstellen.
Fragen: Kerstin Schneider
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