: Leben zwischen Fisch und Frost
Das kanadische Battle Harbour liegt auf einer zwei Quadratkilometer großen Insel im südlichen Labrador. Einst war es ein quirliger Handelsplatz, an dem frischgefangener Kabeljau getrocknet und Robbentran gekocht wurde. Inzwischen ist die gesamte Insel zum Museumsdorf geworden ■ Von Franz Lerchenmüller
Zur Begrüßung sind die Pappkameraden angetreten, Männer in Gummistiefeln und grobem Drillich. Einer rührt noch in einem Holzzuber, die anderen haben sich vor dem Mehlspeicher aufgereiht. „Das ist der Küfer“, stellt Michael Earle vor, so etwas wie der Ortsvorsteher heutiger Tage, „hier der Koch, und der Mann rechts vorn hieß Entenschnabel, wegen seiner Nase.“
Sie waren Handwerker, Fischer und Arbeiter, ganz gewöhnliche Leute aus dem Dorf, denen ein ganz ungewöhnliches Denkmal gesetzt wurde: ihre Lebensgroßen Fotos, auf Aluminiumplatten aufgedampft. Sie stimmen den Besucher durchaus passend auf Battle Harbour ein: Denkmäler gibt es hier eine Menge. Woran es fehlt, ist Leben.
Ja, zu ihrer besten Zeit, 1895, da war dieser Flecken auf der zwei Quadratkilometer großen Insel vor der Südostküste Labradors noch ein munterer Handelsplatz – sogar die inoffizielle Hauptstadt des Landes. Hier wurde Kabeljau getrocknet und Robbentran gekocht, hier deckten sich die Fischer aus den Nestern an der Küste mit Netzen, Mehl, Salzfleisch und Rum ein oder ließen in der Krankenstation ihre eitrigen Geschwüre versorgen.
Im Hafen löschten die großen Segler aus Spanien ihre Ladung aus losem Salz und nahmen Fässer voll Hering und dichtgepreßten Salzfisch an Bord; hier gab es eine Kirche und eine Schule, später eine Telegrafenstation und einen Polizeiposten. Bis zu dreitausend Menschen drängten sich sommers auf der Insel. Das waren Großstadtverhältnisse für das menschenleere Labrador.
Battle Harbour heute – das ist ein Ort, der von einer seltsamen Stille erfüllt ist: ein Museumsdorf. Zwanzig Zimmerleute legten während der letzten acht Jahre Gehwege an, erneuerten den Landungssteg, renovierten zwanzig der insgesamt noch vierzig vorhandenen Gebäude. Umgerechnet sechs Millionen Mark wurden investiert, und nun „erstrahlt Battle Harbour in neuem Glanz“ – was bei einem Museum vielleicht nicht immer das Richtige ist.
In einer der geräumigen Hallen wurden Seehundfelle gestapelt, in einer anderen lagerte Salz, anderthalb Millionen Pfund Salz auf drei Stockwerken; Salz, das die Voraussetzung war, daß der Reichtum Labradors überhaupt genutzt werden konnte: der Kabeljau. Es ist tief ins Holz eingedrungen. Noch heute schwitzen die Balken weiße Kristalle aus.
Hier oben haben sie Netze geflickt und sich Geschichten erzählt. „Die Luft unter den schwarzen Dachsparren war dick vom Qualm“, sagt Mike, der 36jährige Lockenkopf, der selbst zehn Jahre gefischt hat, ehe er Tischler und schließlich Leiter der Renovierungsarbeiten wurde. „Der Boden glitschig von Spucke und Kautabak, die Schwindsucht hatte hier einen guten Nährboden. Und wie es stank: nach Fisch, nach Schweiß und Robbenspeck.“
In dem Speicher, in dem einst Lachs eingedost wurde, befindet sich heute das „Interpretation Centre“. Fässer, Haken, Netze und alte Fotografien erinnern an die Geschichte des Ortes: Französische Fischer und baskische Walfänger waren die ersten Europäer, die im 16. Jahrhundert die Insel als Sommerquartier nutzten.
Als 1763 im Vertrag von Paris Labrador der britischen Kolonie Neufundland zugeschlagen wurde, setzten die Briten sich fest, Neuengländer aus dem Süden legten ihre Leinen in den Gewässern aus. Die Firma John Slade & Company aus Poole errichtete feste Gebäude. Ihre Agenten tauschten Ausrüstung und Lebensmittel gegen Kabeljau und Seehund: Ware gegen Schuldschein gegen Fisch, dessen Preis aber erst am Ende der Saison festgesetzt wurde – eine Falle, in der manche Fischer bis zu ihrem Lebensende steckenblieben.
Slades Arbeiter aus England blieben bald über den Winter und heirateten Inuit- und Meti-Frauen – eine richtige Siedlung entstand. Als 1866 das cod-trap erfunden wurde, das Kabeljaustellnetz, nahm die Fischverarbeitung ganz neue Dimensionen an: Hunderte von Booten aus Neufundland waren im Sommer vor Labrador unterwegs, komplette Dörfer auf dem Wasser – starb jemand, wurde er bis zur Rückfahrt in die Heimat „eingesalzen wie ein Fisch“ –, Streitigkeiten regelte ein Richter, der einmal im Jahr angesegelt kam.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts boomte Battle Harbour – und dann war es auch schon vorbei. Immer mehr Kabeljau wurde gefangen, immer kleinere Exemplare verarbeitet, die Qualität sank, der Preis fiel, und damit die Bedeutung des Hafens.
Als die kanadische Regierung 1965 ein großes Umsiedlungsprogramm in Gang setzte, lebten gerade noch 64 Menschen auf der Insel. 59 zogen aufs Festland. 1992 war die Fischerei endgültig am Ende. Die See war leer, die Regierung erließ ein allgemeines Fangverbot für Kabeljau. 30.000 Fischer in Neufundland und Labrador verloren ihre Arbeit.
Doch gerade das Ende eröffnete Battle Harbour die Chance auf einen Neuanfang: Das Dorf sollte zur Touristenattraktion werden. Nach dem Willen der Regierung sollen, neben den Einnahmen aus Erdöl, Eisenerz und einer wachsenden Softwareindustrie, zunehmend auch Besucher Geld in die Kassen der Provinz Neufundland & Labrador bringen.
Auch wenn das alles andere als einfach ist: Das Land ist riesig, rauh und schön – aber noch sehr wenig erschlossen. So wird selbst die Anreise nach Battle Harbour zu einem kleinen Abenteuer. Mit einer zwanzigsitzigen Twin-Otter-Maschine von St. Anthonys auf Neufundland nach Marys Harbour in Labrador, von dort eine weitere halbe Stunde mit dem Boot zur Insel.
Auch auf den zweiten Blick wirkt das neue alte Battle Harbour seltsam steril. Die ordentlichen Ziegeldächer, die sauber gestrichenen Häuser, die frischen Planken auf dem Landungssteg: Es mangelt an Patina, der Ort wirkt geliftet.
Es muß Leben in die Buden, und sie arbeiten daran. Einkaufen etwa kann man schon. Im „Store“, dem Einkaufsladen, stehen, wie vor Jahren, die Dosen mit Baked Beans in den grauen Regalen, in der Vitrine schwitzt ein Stück Cheddar, und hinter der Theke rechnet Jackie die Einkäufe mit dem Bleistift zusammen.
Wer einkauft? „Die vier letzten Zimmerleute“, sagt Mike. „Die Handvoll alter Fischer, die sich am Hafen treffen und nicht über die früheren Zeiten reden möchten, weil ihnen dann vielleicht die Tränen kämen.“ Ein Schwung Touristen, wenn ein Kreuzfahrtschiff anlegt. Und natürlich die, die im „Doctor's Cottage“ übernachten – 150 waren es immerhin im vorigen Jahr.
1892 kam Dr. Wilfred Grenfell zum ersten Mal mit seinem Hospitalschiff nach Battle Harbour. Der englische Arzt, gleichermaßen getrieben von Abenteuerlust, sozialem Engagement und Geltungsbedürfnis, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Küstenbewohner, die elendiglich unter Bandwürmern, Tuberkulose und Erfrierungen litten, mit medizinischer Hilfe zu versorgen – und dem rechten Glauben gleich dazu.
Ein Jahr später eröffnete er ein Krankenhaus mit acht Betten. Damit Ärzte und Schwestern standesgemäß wohnen konnten, ließ er aus England ein vorgefertigtes Haus mit reich ornamentierter Fassade anliefern. Es steht noch, wieder in alter Pracht: weiße Strukturtapete und cremefarbene Täfelung, englische Stilmöbel und schwerer Damast. Es gibt elektrisches Licht, dank zweier Dieselgeneratoren, die die Insel mit Strom versorgen. Doch wer kochen will, muß erst den Ofen anheizen.
Das Schmuckstück aber ist die verglaste Veranda. Hier an seinem Whisky zu nippen, im Warmen zu sitzen und den Fischern zuzusehen, die im aufziehenden Sturm durchnäßt von der See zurückkehren – o doch: Standesunterschiede hatten schon ihr Gutes. Jedenfalls für die hier oben.
Im „Battle Harbour Inn“ wird Abendessen serviert, im ehemaligen Wohnsitz der Kaufleute, mit Blick über die See und auf die ganze Insel, ihre Insel: gebackene Bohnen mit Sirup und Speck. Mächtige Stücke Fleisch auf Brot. Kuchen mit Multebeeren aus den heimischen Hügeln.
Dazu Wasser, in dem Eisbergeis schwimmt, schließlich liegt direkt vor der Haustür „Iceberg-Alley“, die Meeresstraße, auf der die zehntausend Jahre alten gefrorenen Riesen aus der Arktis nach Süden driften. Wie Skulpturen aus Porzellan oder Talg ziehen sie vorbei, alabasterweiß von innen leuchtend oder schmutziggrau schimmernd, je nach dem, wie das Licht fällt. Und doch, bei aller Schönheit der Natur, bei aller Herzlichkeit der Wirtsleute, bei allem Enthusiasmus, mit dem Michael über die Insel fährt – der Besucher fühlt sich seltsam fremd, wie ein Gast in einer Geisterstadt.
Aber dann erwacht dieses Eiland überraschend doch noch zum Leben – ausgerechnet bei den Toten. Auf dem winzigen Friedhof am anderen Ende der Insel, wo die Ärmeren wohnten und jetzt die morschen Stege verfallen, scheint der Mond auf die verwitterten Steine.
Und plötzlich treten Namen hervor und verdichten sich zu möglichen Geschichten. Susanna Bradley etwa, die am 23. Februar 1846 starb. War sie wirklich das „geliebte Weib von Jacob Bradley“? Rebecca Mead: Welches war der schönste Tag ihrer 84 Jahre auf dieser Insel? Oder John Hedderson, dessen Leben am 23. Dezember 1872 mit 36 Jahren endete. Geschah es im Sturm? Infolge einer Blutvergiftung nach einem harmlosen Schnitt beim Fischeausnehmen? Bei einer Schlägerei im Suff?
Ausgerechnet zwischen den Felsen des Friedhofs werden sie lebendig, die Erinnerungen an diese Leben in Entbehrung und Plackerei, den Alltag zwischen Fisch und Frost, an die Zeit, als sie noch Menschen aus Fleisch und Blut waren: die Pappkameraden von Battle Harbour.
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