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Moskau rückt weiter in die Ferne

Die russischen Regionen setzen sich immer mehr vom Zentrum ab und wirtschaften auf eigene Rechnung. Doch der Kreml hat immer noch kein tragfähiges Föderalismuskonzept. Dem Riesenreich droht der Zerfall  ■ Aus Samara Klaus-Helge Donath

Die Frau hinterm Schalter schaut gar nicht erst nach. „Nach Anadyr? Bis Mitte November ausgebucht“, meint sie routinemäßig. Wer in den Hauptort Tschukotkas im nordöstlichen Zipfel Rußlands reisen möchte, muß Geduld mitbringen. Früher flogen Maschinen aus Moskau die acht Zeitzonen entfernte Stadt jeden Werktag an. Inzwischen kann von Glück reden, wer ein Ticket für den einzigen wöchentlichen Flug ergattert.

Rußlands Wirtschaftskrise führt es plötzlich drastisch vor Augen: Die Anbindung der Peripherie an das Zentrum erodiert unhaufhaltsam. Versorgungsschiffe mit Brennstoffen liefen die nördlichen Häfen in diesem Jahr gar nicht mehr an. Der Staat ist blank. In der Kleinstadt Mys Schmidta, die tagsüber den Strom abstellt und Schulen nicht mehr beheizt, plant die Verwaltung, die 5.000 Seelen in wirtlichere Gefilde umzusiedeln. Mehr als eine Million Bürger müßten aus den Regionen des ewigen Eises evakuiert werden, schätzt der Parlamentsausschuß Hoher Norden. Wer aber sollte das organisieren? Woher die Mittel nehmen? Die dramatische Zuspitzung zeugt davon, daß das Riesenreich auch ohne äußere Gewaltanwendung langsam zerfällt.

In den extremen – auf Außenhilfe angewiesenen – Klimazonen offenbart sich früher, was dem ganzen Land bevorstehen könnte. Eine schleichende Desintegration, die an Tempo zulegt, solange es die Zentralmacht nicht schafft, dem föderalen Staatsaufbau wirkliches Leben einzuhauchen.

Als Premierminister Jewgenij Primakow die Chefs der 89 Subjekte der Föderation vor kurzem nach Moskau zitierte, stand nicht etwa die Wirtschaftskrise zuoberst auf der Agenda. Statt dessen appellierte er an die Provinzfürsten, Rußlands Einheit nicht zu gefährden. Doch es sind nicht offen sezessionistische Bestrebungen, wie 1994 im Krieg gegen die Kaukasusrepublik Tschetschenien, die die territoriale Integrität heute gefährden. Der amtierende Gouverneur von Krasnojarsk, Alexander Lebed, Ex-General und flammender Patriot, dürfte über jeden Separatismusverdacht erhaben sein. Trotzdem war er es, der drohte, die Eliteeinheit der im Gebiet Krasnojarsk stationierten strategischen Raketentruppen unter seine Fittiche zu nehmen. Bisher garantierten die dem Zentrum unterstellten Sicherheitsorgane die Kontrolle Moskaus in den Provinzen. Doch das Verteidigungsministerium war wieder seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht nachgekommen.

Hinter dem Rücken der morschen Zentralgewalt ist ein Machtvakuum entstanden, in das die Gouverneure hineinstoßen. Regionen nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Um ihren Herrschaftsbereich vor Auswirkungen der Krise zu schützen, erließen an die 50 Regionen eigenmächtig Direktiven, die föderalen Gesetzen widersprechen. Im Rückgriff auf Methoden der Kommandowirtschaft führten fast alle Gebiete Preisbindungen ein, obwohl das russische Gesetz Eingriffe in den privaten Handel verbietet.

Das Motto lautet: „Wir sind das Gesetz“

Ein Großteil der Regionsfürsten, unter ihnen Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow, der sich gerne als vorbildlicher Marktwirtschaftler präsentiert, untersagte gar den Export von Lebensmitteln. Kontrollen an Ausfallstraßen sollten das Verbot sicherstellen. Als es die Zentrale nach einem Monat endlich wagte, die Aufhebung der Zwangsmaßnahmen zu fordern, stellten sich die meisten Gouverneure taub. In Woronesch und Krasnodar boten die postsowjetischen Feudalherren dem Zentrum die Stirn. Nach dem Motto „Wir sind das Gesetz“. Moskau mahnte und beließ es bei der Kritik...

„Das läuft auf das Ende eines einheitlichen russischen Marktes hinaus“, schüttelt Konstantin Titow den Kopf. Der Gouverneur des wohlhabenden Gebietes Samara an der unteren Wolga verfiel nicht in Panik. Im Gegenteil, er trat die Offensive an und nutzte die Krise, um heimischen Produzenten auf die Beine zu helfen. Makkaroni und Fleisch aus Samara sind inzwischen überall im Handel. Zudem versammelte der Wirtschaftsprofessor die Kollegen aus St. Petersburg und Nischni Nowgorod um seinen Tisch.

Wie Samara gehören sie zu jenem Dutzend Regionen, die in den föderalen Haushalt mehr einzahlen, als sie zurückerhalten. Man beschloß, statt zu konkurrieren, in der Krise zu kooperieren. So verzichtet Samara darauf, die Produktion von Autobussen wiederaufzunehmen, um Nischni Nowgorods Hersteller nicht zu gefährden. Die Lokalpresse feierte das Treffen als eine „Demonstration der Macht“. Provinzieller Hochmut? Keineswegs, denn Titow und seine beiden Kollegen leiten im Oberhaus des Parlaments, dem Föderationsrat, die wichtigsten Ausschüsse – Haushalt, Wirtschaft und Föderation. Sie wissen die Gouverneure der übrigen neun reichen Regionen hinter sich. Und darum geht es.

Die Geberregionen verlangen eine Erleichterung der Steuerbürde. Der Streit dreht sich nicht um die mit dem Fiskus vereinbarte Grundsumme der Abgaben. Was das Gebiet daneben an Mehreinnahmen verzeichnet, wollen die Regionen zur Hälfte behalten. Moskau aber fordert alles, ohne jedoch die Verpflichtungen gegenüber den föderalen Betrieben, meist Rüstungsunternehmen, in der Provinz wahrzunehmen.

Die Verteilung des Eigentums zwischen Provinz und Föderation, darin sind sich die Gouverneure einig, müsse neu verhandelt werden. Doch Moskau blockt auch hier. Jedes Großunternehmen, das den Eigentümer wechselt, geht als potentieller Hebel verloren, um eine Region zu beeinflussen. Auch ein Betrieb, dessen Belegschaft monatelang auf Lohn wartet, kann als Vehikel dienen, einen unliebsamen Provinzboß in die Botmäßigkeit zu zwingen. Irgendwann wird sich der entfesselte Volkszorn schon vor Ort entladen.

Samara legte früh eigene Valutareserven an

Die Gouverneure jener Gebiete, die voll und ganz am Tropf der Föderation hängen, scheinen das zu ahnen. Viele herrschten bisher in ihren Teilfürstentümern wie absolutistische Potentaten. Und sie konnten beinah so sicher sein wie Nord-Koreas Kim Il Sung, daß sie von den Wählern immer wieder bestätigt würden, solange die Versorgung aus dem Zentrum garantiert war. Als Dank bezeugten sie Moskau Loyalität. Seit jedoch der Geldstrom versiegt, klagen auch sie mehr Autonomie ein, sprich Steuererleichterungen.

Um sich gegen die schleichende Krise zu immunisieren, legte Samara schon früh eigene Gold- und Valutareserven an. In Moskau schaute man Titow scheel an. Dabei stellte Samara nicht etwa wie das sibirische Gebiet Omsk die Steuerzahlungen an Moskau ein oder verhängte gar ein Moratorium regionaler Schulden wie zig andere Gebiete.

Unter dem Deckmantel der Antikrisenmaßnahmen setzte mancher Gouverneur um, was ihm schon lange auf den Nägeln brannte. Tatarstan nutzte die Zeit der Wirren und verstaatlichte einst privatisierte Firmen. Jakutien weigert sich, Gold und Diamanten auszuliefern, um am Ende eine niedrigere Staatsquote auszuhandeln. Andere verhängten ein lokales Alkoholmonopol. Der Gouverneur von Swerdlowsk im Ural spielt unterdessen mit seiner Lieblingsidee, den Ural-Franken als Lokalwährung einzuführen. Ob das Konterfei des Burgherrn eines Tages wohl das Spielgeld zieren wird?

Hart betroffene Regionen erklärten sogar den Notstand, was nach der Verfassung nur dem Präsidenten zusteht. Im bettelarmen fernen Osten baten die Verwaltungen ausländische Nachbarn in Alaska, Japan und Süd-Korea um Hilfe. „Kauft Amerika nach Alaska demnächst auch Sibirien als 51. Staat?“ fragte die Komsomolskaja, die auf eine lebhafte Diskussion in den USA verwies.

Inzwischen hat der Kreml verstanden, daß der Erfolg der neuen Regierung von der Kooperationsbereitschaft der Provinzialen abhängt. Für acht Gouverneure, die gleichzeitig Vorsitzende regionaler Wirtschaftsassoziationen sind, wurde eigens ein Gremium mit beratender Funktion aus der Taufe gehoben. Doch kann der Versuch erfolgreich sein? Primakow schwebt vor, den zentralisierten Einheitsstaat wiederzubeleben. Und das zeugt eher von Wirklichkeitsverlust. Warum schließlich sollten Gouverneure ihre einmal eroberte Selbständigkeit freiwillig aufgeben?

Inzwischen proben sie sogar den Aufstand. Der Föderationsrat lancierte jetzt einen Antrag, der Präsident Jelzin zum Rücktritt aufforderte. Er scheiterte an elf Stimmen. Regionalherren, die es mit dem Gesetz allzu locker nehmen, warnte der Premier, würden aus dem Amt gescheucht. Die Gouverneure waren entrüstet. Ein altbekannter Geist wehte da, der es mit dem Gesetz nicht zu genau nimmt. Gewählte Volksvertreter können nur aufgrund eines Richterspruchs ihren Posten verlieren. Die Hoffnung, aus dem Chaos einen tragfähigen Föderalismus zu errichten, schwindet vor diesem Hintergrund. Klar dürfte sein: Tritt der Kreml Kompetenzen nicht freiwillig ab, werden sich die Territorialherren Mittel ausdenken, um ihm dennoch Rechte abzutrotzen.

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