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Augenaufschlag eines Sterbenden

Life according to Fudji: Die japanische Compagnie „Dumb Type“ eröffnete am Mittwoch furios die Kampnagelsaison. Da ist noch Leben auf der Intensivstation  ■ Von Birgit Glombitza

Die Welt unterm Fotokopierer. Nachtschwarz, Blitzweiß. Das Stroboskop graviert wie ein monströser Lichtgriffel seine Bilder in die Netzhaut der Zuschauer. Jetzt und jetzt, an und aus, in und ex. Tänzer rollen über die Erde, umarmen sich, hüpfen von einer Bahre. Das Licht seziert jede Bewegung in ihre Einzelteile. Arme wirken wie angeschraubt. Springende scheinen in der Luft kleben zu bleiben. Der Zeitfluß als Aufschnitt unterm Funken schlagenden Schwert. Wie lange dauert ein Augenblick? Was bleibt übrig von einer durchgezappten Glotzenstunde, von dem Sightseeing durch den Sucher einer Videokamera, von einem Bild zwischen den Belichtungszeiten der Erinnerung, vom letzten Augenaufschlag eines Sterbenden? Life according to Fudji.

Die japanische Performancegruppe Dumb Type, die am Mittwoch die Spielzeit auf Kampnagel eröffnete, verlegt in OR die Wahrnehmung zwischen dem Wimpernschlag auf die Intensivstation. OR steht dabei nicht nur für „Operation Room“, sondern auch für „Orientation“ und für das binäre System, mit dem sich Rechner die Welt der Tatsachen sortieren. 1 oder 0, schwarz oder weiß, lebendig oder tot.

Im Halbrund des Bühnenweiß und vor einer Panoramawand mit Projektionen, in denen vertikale Linien einen Bildanfang willkürlich markieren oder das abgewandelte EEG eines klinischen Todes beschreiben, treffen sich Patienten, Tote und Davongekommene. Drei Verstorbene, drei Witwen, drei Abschiedsrituale. Eine legt ihrem Gatten ein Hundehalsband um, faßt ihn resolut in den Schritt und schnürt die Leiche mit arterienroten Seilen zum Bondage-Paket. SM als eine erfahrbare Grenze zwischen Tod und Leben. Eine andere zieht ihrem Gewesenen Frauenkleider an, stopft seine Socken als Ersatzbrüste in den BH und präpariert seinen Körper sorgfältig als Reliquie für den eigenen Gedächtnistabernakel. Die letzte findet für den Schmerz kein Ersatzobjekt und keinen anderen Ausdruck als einen dumpfen Schrei.

Manchmal fahren auch Tote in den Urlaub. Über die Alpen, durch die Schweiz nach Italien. Die Fahrbahnbegrenzung auf der Videowand schient den stumpfen Blick durch die Windschutzscheibe. Schnell und schneller. Die Reise als Schleuse durch ein lästiges Niemandsland zwischen Punkt A und B. Zeit hat man erst, wenn man angekommen ist. Und dann soll, dann muß alles anders sein. Dann ist man glücklich, entspannt, lebendig geradezu. Und wen im Umkleidesack der Schlag trifft, muß wieder zurück auf Anfang. In den steilen klinischen Raum, in dem seltsame anatomische Übungen das Gleichgewicht reanimieren und das schneidende Fiepen von Rückkoppelungen und Exitus-Piepen das Stakkato bedrohter Vitalfunktionen anstimmen.

Bei Dumb Type gerinnt das Leben zur toten Form und der Tanz zum chirurgischen Eingriff. Operation am halblebendigen Leib. Mit effektsicherer Bühnentechnik, die ihre Bässe direkt an die Magenwände zu hämmern und ihre Bilder unmittelbar an die Stirninnenseite zu projizieren scheint, liefert die Compagnie aus Kyoto eine ungeheuer präzise Inszenierung. Eindrucksvoll und aseptisch zugleich.

bis Sonntag, jeweils 20 Uhr, k6

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