: "Sex nie verstanden"
■ Anais Nin, Pionierin weiblicher Ausschweifung, war eine Gefangene repressiver Mittelklassemoral - meint ihre Biographin Deirdre Bair
taz: Anais Nins Tagebücher für die Öffentlichkeit nennen Sie „Liary“ statt „Diary“. Warum?
Deirdre Bair: Ich dachte zunächst auch, ihre Tagebücher aus den sechziger und siebziger Jahren seien authentisch. Dann wurde mir klar, daß ich es, anders als bei Simone de Beauvoir, mit völlig anderen Memoiren zu tun hatte. Beauvoir hat für die Öffentlichkeit und mit Exkursen über Literatur, Kultur und Politik geschrieben. Sie tat gar nicht so, als wollte sie viel über sich selbst preisgeben, obwohl sie den wesentlichen Verlauf ihres Lebens erzählte. Bei Anais Nin dagegen ging es um eine Frau, die sich selbst zum literarischen Objekt gemacht hat.
Sind Sie während Ihrer Arbeit bezüglich des Begriffs „Biographie“ unsicher geworden?
Ja. Das lag daran, daß die Voraussetzungen für meine Biographien über Simone de Beauvoir und Samuel Beckett völlig andere waren. Anfangs glaubte ich, es gäbe ein Modell oder eine Formel, nach der man arbeiten könne. Aber jeder Lebenslauf ist völlig anders und damit auch die biographische Herangehensweise: Samuel Beckett war ein Mann, der zurückgezogen lebte, aber wenn er etwas von sich preisgab, legte er großen Wert auf Wahrhaftigkeit. Ähnlich verhielt es sich bei Simone de Beauvoir, die für mich eine transparente und sehr direkte Frau war. Bei Anais Nin dagegen gibt es keine Konsistenz und auch keine Regelhaftigkeit.
Sie schreiben gerade an einer C.G.-Jung-Biographie. Rekonstruiert und erfindet ein wissenschaftlicher Kopf wie er sein Leben grundsätzlich anders als eine Literatin wie Nin?
Grundsätzlich nicht. Jung hat im Alter von achtzig Jahren sein Leben für die Autobiographie rekonstruiert und schrieb in einem Brief, er versuche nicht als Achtzigjähriger zu schreiben, sondern als Fünf-, Zehn-, Zwanzigjähriger. Der Unterschied liegt wohl darin, daß Menschen wie Beckett, de Beauvoir und Jung ein solides Empfinden für die Begrenzungen ihrer Persönlichkeit hatten, das Anais Nin so nicht besaß. Also wollte sie sich beim Schreiben als perfekte Frau erfinden, als Prototyp der besten Freundin, Liebhaberin und Wohltäterin.
Lebte Anais Nin nicht mit dem Paradoxon, Symbolfigur eines libertinären Sexuallebens zu sein, sich aber selbst unter sexuellen Erfolgsdruck zu setzen?
Sie hat die Eigenarten weiblicher Sexualität wohl nie wirklich verstanden. Das ist insofern paradox, als sie eine Pionierin war und eine der ersten Frauen, die ihr Sexualleben in die eigene Hand nahmen. Trotzdem fühlte sie sich – wie ihre authentischen Tagebücher belegen – häufig unglücklich. Der Grund war wohl, daß sie sich nur über ihre Partner definierte und sich selbst betrog, indem sie nicht auf eigene Erfüllung und Befriedigung achtete, sondern lediglich die Männer glücklich machen wollte, mit denen sie zusammen war.
Die junge Anais Nin beschäftigte sich intensiv mit D.H. Lawrence. Vielleicht weil beide ein romantisches Liebeskonzept und libertinäre Sexualität leben wollten, ohne es wirklich zu können?
Sie hat lange über Lawrences Ideen nachgedacht, bevor sie Henry Miller kennenlernte. Anais Nin und Lawrence waren beide unheimlich neugierig auf unbekannte Formen der Sexualität, verharrten aber doch in einer sehr repressiven Mittelklassemoral. Was Sie romantisches Liebeskonzept nennen, hatte ja auch den eher komischen Effekt, daß sie in ihrer Beziehung mit Henry Miller permanent damit beschäftigt war, sich um sein Wohl zu kümmern und Geld für ihn zu beschaffen.
Warum wurde Anais Nin trotzdem für die Lesben- und Schwulenbewegung so wichtig?
Schwer nachvollziehbar. Sie schrieb ja wirklich ziemlichen Humbug, etwa, daß Homosexuelle die Welt und die Literatur ruinierten. Ihre lesbischen Erfahrungen waren – anders als der von ihr selbst geförderte Mythos – gleich Null. Und in ihrem Verhältnis zu Henry Millers Ehefrau June ging es um ein raffiniertes Spiel der beiden Frauen. June sagt selbst, sie habe Anais ködern wollen, um herauszubekommen, wie weit Anais' sexuelles Verhältnis zu Henry ging. Als June das herausgefunden hatte, verließ sie Miller ja auch.
Ins Zentrum der Person Nin führt wohl die Inszestgeschichte. Wie schätzen Sie hier das Verhältnis von „Diary“ und „Liary“ in diesem Punkt ein?
Sie hatte zweifelsfrei über sechs Monate hinweg ein sexuelles Verhältnis mit ihrem Vater. Anais war gerade dreißig, sah nach zwanzig Jahren ihren inzwischen vierundfünzigjährigen Vater wieder, und laut ihrem Tagebuch passierte es das erste Mal einfach und ganz selbstverständlich. Danach richtete sie es so ein, daß es passierte. Psychologen erklären das sehr plausibel. Wird ein Kind so früh wie Anais von einem Elternteil getrennt, entwickelt es Sehnsüchte und Phantasien und will sich selbst im Vater wiederfinden, weil sie ja die alltägliche Entwicklung im familiären Zusammensein nicht leben konnten. Ein Muster, das vor allem im Zusammenhang mit dem Mutter-Sohn-Inzest erforscht ist.
Was ist davon zu halten, daß Anais Nin sich in ihrer New Yorker Zeit mit Otto Rank als Psychoanalytikerin fühlte und Patienten behandelte?
Unglaublich, daß sie tatsächlich glaubte, die Probleme der Menschen professionell lösen zu können. Noch unglaublicher war allerdings, daß Rank es ihr erlaubte, Patienten ohne Diplom zu behandeln. Rank war da wie alle anderen Männer: total verrückt nach ihr.
Ist es nicht problematisch, daß Sie, obwohl Sie als Biographin biographische Verläufe nicht kommentieren sollten, Anais Nin als pathologischen Fall behandeln?
Ich denke schon, daß sie pathologische Probleme hatte. Ich habe darüber mit vielen Psychoanalytikern, Psychiatern und Psychologen gesprochen und ihnen Ausschnitte des Originaltagebuches zum Lesen gegeben. Die Einschätzung lautete übereinstimmend: narzißtische Borderline-Persönlichkeit. Ich kann nicht beurteilen, ob diese Diagnose stimmt. Ich kann nur zeigen, wie sie sich verhalten hat.
Kann man überhaupt zu einem Urteil über einen Menschen gelangen, dann aber so schreiben, als urteile man nicht?
Ich muß eingestehen, daß ich bei der Nin-Biographie wie in keinem anderen Fall persönlich involviert war und emotional hin- und hergerissen wurde zwischen „Das ist das abscheulichste menschliche Wesen“ und „Oh, was für ein süßes Mädchen, was für eine schöne Frau“. Würden Sie jetzt zu mir sagen, ich habe eine sehr emotionale Biographie geschrieben, kann ich nur sagen: Sie ist wie Anais Nins Leben, sehr emotional und schwankend zwischen Ablehnung und Liebe. Interview: Jürgen Berger
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