piwik no script img

Bergsteigen in BremenMein Bergführer

■ Folge 8: Warum die Götter tatsächlich verrückt sein müssen

Sie erinnern sich: Ich fühlte mich sowohl geistig als auch körperlich wie ein junger Gott. Nun ist es aber so, daß selbst der beste Gott ab und zu einen Handlanger braucht. Der Liebe Gott hat Jesus, Don Quichotte hat Knecht Ruprecht, und Burns hat Smithers. All diese Handlanger verbindet, daß sie den Arsch hinhalten, wenn's brenzlig wird. Meine Berghündin Lassie schied bei der geplanten Erstbesteigung des Bremer Müllbergs für diese Aufgabe aus, denn außer pinkeln und furzen konnte sie eigentlich nur noch schlafen, das aber richtig gut (kein Wunder – sie hatte gelernt, die Sangriaflasche zu öffnen). Nein, ich brauchte einen Bergführer, der gleichzeitig mein Träger war, einen, der mir den Weg wies, aber dennoch bescheiden genug war, mir auf den letzten Metern zum Gipfel den Vortritt zu lassen.

Aber wo findet man einen guten Bergführer? Ich meine, einen wirklich guten Bergführer, eine Mischung aus Almöhi, Luis Trenker und Yeti, so ein altes, ausgebufftes, sonnengegerbtes Aas, das den Finger hebt, die Augen verdreht und eine Lawine voraussagt, die kurz darauf niedergeht – und sich trotzdem nicht zu schade ist, die Ausrüstung zu schleppen.

Ich war gerade auf dem Weg zum Bahnhof, es war ein Dienstag oder ein Mittwoch. Vielleicht war es auch ein Donnerstag. Oder Sonntag. Auf jeden Fall begleitete Lassie mich, und auf jeden Fall war der Himmel blau oder grau oder schwarz. Auf keinen Fall war der Himmel grün oder khaki. Zumindest nicht ständig. Es schneite, regnete, hagelte, die Sonne schien, es gab einen Regenbogen mitten in der Nacht, es war ein sonniger Tag mitten im August und die Schmetterlinge zirpten im Mondschein.

Vielleicht war auch alles ganz anders, mir war jedenfalls anders, denn ich hatte beim Ausprobieren des Sauerstoffgerätes feststellen müssen, daß die Händlerin für Bergsteigerbedarf, Frau Giesela Kraft aus Dresden, mir statt Sauerstoff Lachgas verkauft hatte. Ich war also gerade auf dem Weg zum Bahnhof – ich wollte nach Dresden fahren, um mich zu beschweren – als mir die Idee mit den Handlangern Gottes kam. Über den Bahnhofsvorplatz stolpernd, sah ich einen Bergführer wie aus dem Bilderbuch: sonnengegerbte Haut, einen verwegenen, zottigen Bart, eine multifunktionale Armeejacke und eine Flasche Korn in der Hand. Er hatte Rucksack und Schlafsack dabei, gerade so, als hätte er mein Erscheinen erwartet. Was soll man viele Worte verlieren, dachte ich mir. Du brauchst diesem Mann nur in die Augen sehen und entschlossen zu nicken, dann wird er der Vorsehung gewahr und folgt dir mit sklavisch-wilder Entschlossenheit ins Abenteuer!

Letztendlich quatschte ich viereinhalb Stunden auf ihn ein. Ich muß überzeugend gewesen sein, denn schließlich konnte ich ihn überreden, mich zu begleiten. Da ich aber durch meine hausgemachte Lachgaspsychose so hilf- und orientierungslos wie ein lobotomierter Maulwurf war, bemerkte ich nicht, daß mein Bergführer mich nicht auf Berge, sondern in die Irre führte; was im Klartext hieß, daß wir Kneipen aufsuchten, die ich bei lichtem Verstand tunlichst gemieden hätte, weil sie mir weder im Hinblick auf ihre Lage noch Namensgebung noch Musikauswahl zugesagt hätten.

So landeten wir zunächst in „Hanni's Bierschwemme“, sumpften anschließend ins „Dumkowski 2“ und krochen hernach in „Peter's Pilsstübchen“, um den Morgen bei einem Fläschchen Jägermeister in „Helga's Trinkhalle“ zu beschließen.

Schließlich wurden wir wegen versiegter Geldquellen der Kneipe verwiesen. Muß ich erwähnen, daß ich den ganzen Spaß zahlen durfte? Ich war so blank, daß ich mir statt des ersehnten Super-Bubblegums mit Gimmick im Plastik-Ei nur ein stinknormales Kaugummi ziehen konnte. Die Sonne ging gerade auf. Während ich fieberhaft darüber nachdachte, wo ich meinen Kopf hingelegt hatte (um das Kaugummi reinzutun), kloppten sich mein Bergführer und Lassie um die Sangriaflasche. Mein Bergführer – der übrigens „Lllltsch“ oder „Hllgllstch“ hieß, wie er mir in einem vetraulichen Moment versichert hatte, und dieser Momente waren viele – verlor. Grummelnd setzte er sich aufs Pflaster, plazierte seinen Berghut einen halben Meter vor sich und zog ein Pappschild aus der Tasche mit der Aufschrift: „RETTET DIE WALE“. Ein paar langhaarige Studenten warfen daraufhin kleinere Geldbeträge in seinen Hut, so daß wir uns noch ein paar Korn leisten konnten. Meinen Kopf fand ich auch wieder, er klemmte zwischen Barhocker und Theke und sah eigentlich noch ganz gut aus. Das Thema bei Sonja heute morgen war: „Sonja, hilf mir! Ich will ein neuer Mensch werden.“

Tim Ingold

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen