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Kein Gutes siegt nirgends

Statt skandalheischenden Effekten: Peter Zadek inszeniert akribisch jeden Halbsatz. Die deutschsprachige Erstaufführung von Sarah Kanes „Gesäubert“  ■ Von Christiane Kühl

Das Phänomen heißt Ratlosigkeit. Die einzigen, die Samstag abend in den Hamburger Kammerspielen nicht ratlos waren, waren junge Menschen unter 16. Sie nämlich hatten zu der deutschen Erstaufführung von Sarah Kanes „Gesäubert“ keinen Zutritt, weil, wie ein Schild an der Kasse verkündete, das Stück für Minderjährige „ungeeignet“ sei. Dabei wären sie vermutlich die einzigen gewesen, die nicht verzweifelt den Realitäts- und Metapherngehalt des Gesehenen hätten auseinanderdividieren müssen. Vertreter ihrer Altersklasse erledigen momentan in Supermärkten Polizisten mit Fleischermessern, da hätte ein halber Liter Theaterblut wohl kaum für Verwirrung gesorgt. Alle anderen aber mußten diskutieren, ob man nach Tarantino noch ernsthaft versuchen darf, mit abgeschnittenen Plastikbeinen zu schocken.

Man kann sich das etwa so vorstellen: Am Montag kriegt der Bruder eine Überdosis Heroin in den Augapfel gespritzt; am Dienstag wird einem jungen Liebenden eine Stange in den Arsch gerammt und anschließend die Zunge abgeschnitten; am Mittwoch treibt der Tote Inzest; am Donnerstag hat der Mörder ein kleines Intermezzo in der Peepshow; am Freitag wird die Schwester von einer Horde vergewaltigt, die kurz darauf von Maschinengewehrsalven umgemäht wird. Am Samstag gibt's Elektroschocks und am Sonntag einen kräftigen Schnitt durch die Kehle. Wenn das drei Wochen so weitergeht, aber dabei alle Tage in einen fallen, ist man bei Sarah Kane. Allerdings unsicher, ob vor oder nach dem Aufwachen. Für die 27jährige ist das keine Frage. In Alpträumen und Depressionen äußert sich für sie „eine völlig realistische Wahrnehmung der Welt“, und Autoren mit der ausgeprägtesten Phantasie, weiß der Kafka- Fan, entpuppten sich im nachhinein stets als Realisten.

„Cleansed“, zu deutsch „Gesäubert“, ist das dritte Stück der Engländerin. Bereits ihr erstes Drama, „Blasted“ („Zerbombt“), hatte nach der Uraufführung 1995 am Londoner Royal Court Theatre wegen seiner direkten Vermittlung physischer und psychischer Gewalt für anhaltende Diskussionen gesorgt. „Gesäubert“ steht dem Debüt in Sachen expliziter Gewaltdarstellung in nichts nach, wirkt aber insofern traumatisierender, als daß es einen erklärenden Rahmen, wie bei „Zerbombt“ den Krieg, nicht gibt. Zwanzig kurze Szenen reihen sich aneinander, von denen jede wie ein gut plazierter Schlag mit einer Metallstange auf den Schädel wirkt.

Wirken könnte. Daß in der kontinentaleuropäischen Euphorie für junges britisches Theater ausgerechnet Peter Zadek die deutschsprachige Erstaufführung von „Gesäubert“ auf die Bühne bringen sollte, ist doch, gelinde gesagt, verwunderlich. Nicht allein in gezählten Lenzen, auch theatergeschichtlich ist der Altschocker des bürgerlichen Schauspiels Kanes Großvätergeneration zuzurechnen. In Hamburg erinnert man vor allem seine „Andi“-Produktion mit den Einstürzenden Neubauten und die an nackten Ärschen ebenfalls nicht geizende, große „Lulu“- Inszenierung. Die Rückkehr des Exintendanten des Deutschen Schauspielhauses an die Elbe fiel bescheiden aus: Statt des größten Theaters der Republik bespielt der 72jährige mit den privaten Kammerspielen ein 450-Plätze-Haus. Und zeigt statt skandalheischenden Effekten eine Eins-zu-eins- Inszenierung vom Blatt.

Grace (Susanne Lothar) kommt in eine Universitätsklinik, um die Kleider ihres dort verstorbenen Bruders Graham (Uwe Bohm) zu holen. Doktor Tinker (Ulrich Mühe) ist der Dealer, der Graham zum goldenen Schuß verhalf; er wird als eine Art wandelnder Sensemann in jeder der folgenden Szenen einen Menschen verstümmeln. Man würde ihn gern als Allegorie sehen, doch weiß man nicht wofür. Als Kreuzung zwischen Mengele und Alex aus „Clockwork Orange“ zerstört er, ohne jede noch so kranke Vision. Der schwule Carl muß seine Zunge lassen, weil er dem Geliebten ewige Liebe schwor, aber unter Folter nicht dazu stand; sein Geliebter wird sterben, obwohl oder weil er nicht verrät. Der junge Robin, der Grace liebt, wird gedemütigt, bis er sich erhängt; Grace selbst verliert sich in ihrer Liebe zum Toten bis hin zu Geschlechtsumwandlung und Wahnsinn. Kein Gutes siegt nirgends, alle Hoffnung liegt in der Peepshow.

„Gesäubert“ ist fleischgewordene Amoral. Die läßt sich allerdings mit Realismus nicht mehr auf die Bühne bringen. In Peter Pabsts lindgrün gekachelter Neonlichtbühne mag das Abschneiden der Zunge noch manche erschrecken, die abgehauenen Hände, spätestens die abgeschlagenen Beine sorgen für Lacher. Zadek hat akribisch noch jeden Halbsatz von Kane inszeniert, hat die Schrift mit hervorragenden Schauspielern in Klang und Bewegung gesetzt, aber eine Übersetzung des Textes für ein theater- wie medienerprobtes Publikum findet nicht statt. Die bleibt nun Martin Kuseij, der das Stück noch in dieser Saison am Staatsschauspiel Stuttgart inszenieren wird.

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