: Der Vermittler zwischen Ost und West
Matthias Flügge ist Vizepräsident der Akademie der Künste und Chefredakteur der Zeitschrift „neue bildende kunst“ ■ Von Jens Rübsam
Den Vizepräsidenten der altehrwürdigen Akademie der Künste stellt man sich am ehesten vielleicht so vor: smart, eleganter Maßanzug, welterfahren, diplomatisch und mit einer zitierfähigen Antwort auf jede Frage. Matthias Flügge ist Vizepräsident und entspricht nicht diesem Klischee. Er ist wohlig gerundet, lässig in seinen Bewegungen, manchmal leicht nervös. Er redet schwallartig. Jede Show, so scheint es, ist ihm zuwider.
Eine Momentaufnahme in einer nüchternen Ausstellungshalle der Akademie der Künste: Matthias Flügge führt das Wort, die Blicke gebannt auf das Manuskript, die Worte mühsam formulierend, die Hände in den Hosentaschen. Er hält eine Laudatio auf eine Schweizer Künstlerin. „Er ist“, bemerkt eine langjährige Akademie-Mitarbeiterin, „kein brillanter Redner.“ Keiner wie Expräsident Walter Jens, der aus feinen Worten kleine Denkmäler zu formen weiß; keiner wie der jetzige Präsident György Konrad, dessen Gedanken selbst noch im Getöse des direkt vor der Akademie liegenden U-Bahnhofs nachschwingen. „Wenn Herr Flügge aufhört zu reden“, meint die resolute Dame, „bleibt nichts im Raum.“
Es gibt etliche Bezeichnungen, die auf den graubärtigen Mann zutreffen. Kunstwissenschaftler zum Beispiel. Von 1972 bis 1976 studierte Matthias Flügge an der Humboldt-Universität Kunstwissenschaft. – Publizist zum Beispiel. Er schrieb für die DDR-Kulturbundzeitschrift Sonntag, war Redakteur beim Verlautbarungsorgan sozialistischer Kunstpolitik, der Zeitschrift Bildende Kunst. – Kunstkritiker zum Beispiel. Er rezensierte für einen Hörfunksender Ausstellungen und sparte nie mit kritischen Anmerkungen. Den Berliner Verein „Kunst-Werke“, den Kultursenator Radunski zur „einzigen Institution in Berlin, von der zündende Signal- und Initialwirkung für die aktuelle Kunstproduktion der Stadt ausgeht“, ausrief, bezeichnete Flügge als „Privatklub, in dem nur am Kaffeetisch entschieden wird“. – Schriftsteller zum Beispiel. Er fand für die Zeichnungen Heinrich Zilles treffende Worte und auch für die Fotos von Ulrich Wüst. „Berlin Mitte“ heißt der Fotoband Wüsts. Flügge notierte im Nachwort: „Blöcke, Leeren, Perspektiven, Fluchten, das ganze formale Repertoire des Gestaltens mit Bildern vom Raum hat der Fotograf zu einer unaufgeregten Sprache gefügt, in der er Mitteilung über die prägenden Bedingungen sozialen Seins macht.“
Kunstwissenschaftler, Publizist, Kunstkritiker, Schriftsteller – alles wohlklingende Begriffe, die Matthias Flügge durchaus treffend charakterisieren. Er selbst aber sieht sich als „Kunstvermittler“, auch im Sinne von: Vermittler zwischen Ost und West. Im Mai 1997 ist er wohl auch deswegen zum Vizepräsidenten der Akademie der Künste gewählt worden, weil man ihm, einem Ostler, zutraute, Ost- und West-Mitglieder zusammenzuführen. Auch als Chefredakteur der neuen bildenden kunst will er „den Prozeß des kulturellen Zusammenwachsens begleiten und befördern“.
Auf einem Aktenschrank in seinem Büro klebt ein kleines Schild, „DDR“ steht in blasser Schrift darauf. Er sei, sagt er, kein Widerständler gewesen. Es klingt, als müsse man sich dafür rechtfertigen. Er durfte schon Anfang der achtziger Jahre in den Westen reisen, um ein Zille-Werkverzeichnis zu erstellen. Er fuhr mit einem Wartburg „von Hamburg bis zum Bodensee“, besuchte alle Museen und nutzte die Wochen, sich ausführlich mit zeitgenössischer Kunst zu beschäftigen. „Durch diese Außensicht ist mir klargeworden, daß bestimmte kulturelle Rituale der DDR-Gesellschaft wirklich so leer sind, wie ich immer geahnt habe“, sagt Matthias Flügge.
Als er merkte, und das war 1984, daß die Zeitschrift Bildende Kunst keinen Raum mehr ließ für Kritik, daß irgendein Bezirksverband den Redakteuren vorschreiben konnte, welcher Künstler und welche Künstlerin zu porträtieren seien, daß das Lesen von Spiegel und Zeit Disziplinarverfahren zur Folge hatte, da bat Matthias Flügge seinen Verlagsleiter um einen Aufhebungsvertrag. Dieser willigte dankbar ein.
Matthias Flügge schrieb fortan in seine Vita: „Freiberufliche Tätigkeit als Kunstwissenschaftler.“ Er wurde ein kritischer Geist in der Kunstszene. Trat leise, aber stetig gegen Verkrustungen in der Kulturbürokratie an.
Oft wirkt Matthias Flügge ein wenig unsicher. Als Redner in der Akademie, nun gut; aber selbst bei einem Gespräch an einem ruhigen Vormittag verlieren sich seine Blicke im Raum, als träfen ihn politische Keulenschläge. Als vor Monaten – nun schon zum drittenmal – in das Büro der neuen bildenden kunst eingebrochen wurde und sich dann an den Wänden Hakenkreuze fanden, war das für die Redaktion der letzte Impuls, Prenzlauer Berg zu verlassen. Von den Nazi-Schmierereien sagte Chefredakteur Flügge seinem Verleger nichts. Der Verlag agiert weltweit. Und Matthias Flügge ist vorsichtig. Allzuoft wird Rechtsradikalismus auf den Osten Deutschlands reduziert.
Vor einiger Zeit war auf Seite eins der Zeit zu lesen: „Haß, nichts als Haß.“ Ausländerfeindlichkeit wurde zur „Alltagskultur im Osten“ erklärt. Matthias Flügge hatte vor, sein Abonnement zu kündigen. „Zu undifferenziert das Betrachtungsmuster“, sagt er, „als wären die Leute im Osten als Rechte geboren.“ Matthias Flügge versucht eigene Erklärungen zu finden. „Rechtsradikalismus hat mit der enttabuisierten Gesellschaft zu tun.“ – „Links ist nicht mehr Konsens in der Jugendbewegung.“ Die Sanftmut, mit der er solche Sätze formuliert, irritiert ein wenig.
Er kann aber auch anders. Wenn Matthias Flügge von der Gefahr des Scheiterns redet, wird seine Stimme fest, und die Worte klingen so, als wären sie mit dem Beil geschlagen. „Ich hätte es als größte Lebensniederlage verstanden, wenn ich zweimal im selben Verlag gescheitert wäre“, sagt er. Einmal ist er gescheitert – war es tatsächlich ein Scheitern? 1984 gab er seinen Redakteursjob bei der Bildenden Kunst auf, „aus politischen Gründen“. 1991, inzwischen als Chefredakteur zurückgekehrt, beschloß der Henschel Verlag die Einstellung des Blattes. Dem Editorial der letzten Ausgabe gab Matthias Flügge die spitzfindige Überschrift: „Kein Nachruf“. Den letzten Satz formulierte er so: „Wir haben eine Chance: die neue bildende kunst.“
Matthias Flügge und Michael Freitag hatten einen Verein gegründet, ABM-Stellen und Sachmittel sowie 300.000 Mark aus dem Kulturfonds erhalten. Recht nützlich war die Freundschaft mit dem letzten DDR-Kultusminister Herbert Schirmer. Eine zweite Niederlage blieb Matthias Flügge durch die Blattneugründung erspart.
Er schrieb nun über das Kunstgeschehen im Osten, auch über die westliche Kunstentwicklung. Er konnte beides miteinander verbinden. Seit 1994, als sich mit dem New Yorker Verlagsunternehmen „G+B [Gordon und Breach] Arts International“ ein neuer Herausgeber fand, kann er die ganze Kunstwelt einfließen lassen. Die neue bildende kunst tauscht mit anderen Publikationen des Verlags Informationen aus.
Fragt man Matthias Flügge nach einer wirklichen Niederlage – 1997 hatte er sich offiziell um das Amt des Präsidenten der Akademie der Künste beworben –, legt sich ein breites, selbstsicheres Lächeln auf sein Gesicht, gerade so, als hätte man einen Teddy lieb umarmt. Eine Niederlage? Nein, nein. Er habe nie Präsident werden wollen. Vizepräsident schon, nur: „Für das Amt des Vizepräsidenten kann man nicht kandidieren.“
Auf den Akademie-Fluren ist heute zu hören: Das Duo Konrad/ Flügge sei ein gutes. Der eine repräsentiere hervorragend, zeige sich nah an den Mitarbeitern, frage schon mal: „Wie geht's?“ Der andere glänze zwar nicht durch seine öffentlichen Auftritte, sei auch weniger umgänglich, schreibe aber glänzende Vorworte für Kataloge und komme sehr gut mit den Ost- Mitgliedern und den Ost-Mitarbeitern aus. „Aber auch mit den West- Mitgliedern und West-Mitarbeitern“, fügt der Vizepräsident hinzu.
Bevor Matthias Flügge zum Vizepräsidenten der Akademie der Künste berufen wurde, hatte er sich mit einem kritischen Artikel in seiner Kunstzeitschrift als Reformer empfohlen. Darin befürwortete er die Auflösung der Abteilungen zugunsten interdisziplinärer Arbeits- und Interessenkreise, den verstärkten Einzug zeitgenössischer Kunst und den „Dialog der Generationen über Kunst und Gesellschaft der Zukunft“. Seine erste Bilanz fällt nüchtern aus: „So idealistisch wie am Anfang sehe ich das heute nicht mehr.“ Von den 300 Akademie-Mitgliedern sind 250 im reiferen Alter. Hin und wieder wagt eine Abteilung einen zarten Ausflug in die Moderne. Meist aber verweilen alle Abteilungen in Retrospektiven der sechziger und siebziger Jahren.
Immerhin, eine provozierende Ausstellung im Herbst: zeitgenössische Kunst aus der Schweiz. „Ein Signal“, freut sich Matthias Flügge, auch wenn er sich eingestehen muß, daß dieses Signal in den Räumlichkeiten („kein Off-Ort“) kaum Wirkung zeigt. „Die Akademie ist ein Apparat mit riesiger Schwerkraft, das liegt in ihrer Natur“, sagt er nachdenklich.
Nur wenige Worte hatte Matthias Flügge an jenem Tag, an dem er zum Vizepräsidenten der Akademie der Künste gewählt wurde, gefunden. Er ist kein großer Redner, vielleicht ein Wortkünstler. Er bastelte sich den schönen Satz zurecht: „Wenn eine Akademie schon ein Anachronismus ist, dann wollen wir doch bitte den Anachronismus der Avantgarde.“
Das Porträt ist dem Buch entnommen: „Die Drahtzieher – Wer hat die Macht in Berlin? – 40 Portraits aus Politik, Wirtschaft und Kultur“. Jaron Verlag. 36 Mark.
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