Albert Hefele: Herr Hefele kriegt zwei Minuten
■ Moments '98: Wie es in Sachen Oliver Kahn plötzlich "klick" machte
Es gibt Dinge, die tut man einfach nicht. Dabei ist nicht die Rede von kriminellen Delikten oder irgendwie strafbaren Handlungen im juristischen Sinne. Die Rede ist von unpassenden Dingen, außer der Reihe tanzenden Dingen, den guten Ton verletzenden Dingen. Dingen wider die allgemeine Erkenntnis, das allgemeine Schamgefühl, das „hammwa immer schon so gemacht“ oder „wenn's doch alle sagen“. Sie wissen, was ich meine? Nein? Lassen Sie mich ein Gleichnis bemühen. Man durfte beispielsweise immer und in schamlosester Form über Helmut Kohl herziehen, nicht jedoch über Wolfgang Schäuble, weil der nämlich im Rollstuhl saß und sitzt. Über behinderte Prominente witzelt man nicht in der Öffentlichkeit – was sie auch treiben. Kein juristisches Diktat – stille Übereinkunft? Dig it?
Na gut, noch ein Beispiel. Nach Lady Dis Abgang beging ich die Frechheit, im Rahmen einer Schrift mich über jene und ihren Begleiter dezent lustig zu machen, und wurde daraufhin von Leserbriefschreibern als „voll fies“ beschimpft. Weil auf einmal alle sich einig waren, daß Lady Di im Grunde voll o.k. sei. Schon immer war. Nur ich war nicht dieser Meinung. Worauf ich eigentlich hinaus will? Immer mit der Ruhe..., aber bitte: Es gibt nicht nur Dinge, die man nicht tut, es gibt auch Behauptungen, die man nicht äußern darf. Es sei denn, man ist Masochist oder kann zumindest den anschließend erfolgenden Tomatenhagel ertragen. Weil man nämlich der einzige ist, der jene Behauptung aufstellt, ein einsamer Rufer und von allen anderen als Wichtigtuer und Effekthascher beschimpft ... bitte? ... nicht länger um den heißen Brei herumreden? Sie haben natürlich recht und sofort bemerkt, wie subtil ich mich ziere und dem Unausweichlichen auszuweichen versuche ... meiner Erkenntnis 98 sozusagen. Soll ich? Nun denn, es hilft ja alles nichts:
Oliver Kahn ist gar kein so guter Torhüter, wie alle sagen.
Hören Sie die plötzlich über Deutschland lastende Stille? Formen auch Ihre Lippen tonlos nochmals die Worte:
Oliver Kahn ist gar kein so guter Torhüter wie alle sagen?
Sehen auch Sie vor Ihrem geistigen Auge meinen Redakteur mit bebenden Händen das Fax mit diesem Text zerknüllen und „Das war die letzte Kolumne dieses wahnsinnigen Allgäuers!“ ausrufen? Ich jedenfalls höre alles ganz genau und sehe das Schlimmste auf mich zukommen. Ich könnte genausogut in die nächste katholische Kirche eilen, ins Weihwasserbecken pinkeln und anschließend der Mutter Maria mit Filzstift einen Bart anmalen. Der Skandal wäre nicht größer. Und trotzdem (das Hemd über der Brust aufreißend):
Oliver Kahn ist gar kein so guter Torhüter, wie alle sagen!
Obwohl er von den Trainern der Bundesliga gerade erst zum vorbildlichsten Profi gewählt wurde? Obwohl alle Rubenbauers und Hartmanns dieser Welt ob seiner Ernsthaftigkeit und Professionalität, seiner kantigen Entschlossenheit und unbeugsamen, jederzeit abrufbaren Einsatzbereitschaft ihre Schleimproduktion mindestens verdoppeln? Ja. Trotzdem und obwohl und weil ich meinen Gegenrednern durchaus in einigen Punkten zustimme.
Schließlich und unbestritten ist Oliver Kahn allem Anschein nach ein seinem Beruf mit großem Engagement nachgehender Ballarbeiter. Er macht auch den Eindruck eines integren Menschen. Um die Fähigkeiten eines Torhüters zu bewerten, zählen aber Engagement und Integrität nur zum Teil. Man fragt nach Sachen wie „Reaktionsfähigkeit und Antizipation“ und „wie dirigiert der seine Abwehr?“ Und man müßte in diesen Punkten Oliver Kahn immer ein „gut“ oder sogar „sehr gut“ verpassen. Wenn man aber nach „Arbeit außerhalb des Fünfmeterraumes“ fragt, wäre es vorbei mit der Erstklassigkeit und ziemlich zappenduster. Da nämlich ist Oliver Kahn einfach schlecht und ein nicht unerheblicher Risikofaktor. Seine Fußabwehr ist zwar hin und wieder selbstmörderisch, aber selten effektiv. Bei hohen Bällen hat er kein Timing und nicht genügend Mut und Entschlossenheit, um sich gegen die Brecher in der Mitte durchzusetzen.
Will mir da vielleicht irgend jemand ernsthaft widersprechen? Ottmar Hitzfeld nicht, das ist mal sicher. Der hat Kahn dazu verdonnert, auf der Linie zu bleiben. Geschwätz? Dann sehen Sie sich das Spiel gegen Manchester mal genau an – und wer die Flanken weggeräumt hat. Bei mir hat es da endgültig „klick“ gemacht. Mein Moment '98.
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