: Sodomiter und Funktionäre
Homosexualitäts-Lexikon „Mann für Mann“ hinterfragt verbreitete Kategorien und Klischees – leider nicht alle ■ Von Jakob Michelsen
Im Jahre 1768 wurde der Hamburger Waisenhauszögling Jochim Hinrich Peter Brügmann zu 25 Jahren Spinnhaus und anschließender Verbannung verurteilt – wegen sexueller Beziehungen zu anderen Waisenknaben. Ob hingegen der misanthropische Komponist Ludwig van Beethoven jemals Sex mit Frauen oder Männern hatte, ist ungewiß; er schrieb jedoch hingebungsvolle Briefe an seinen Neffen Karl, in denen er sich als dessen „Hosenknopf“ bezeichnete.
Derart unterschiedliche Existenzen vereint Bernd-Ulrich Hergemöller in seinem Lexikon Mann für Mann. Der Hamburger Professor für Geschichte forscht seit Jahren über die Historie der Homosexualität. Den großen „Zettelkasten“, der sich dabei angesammelt hat, hat er nun zu einem voluminösen biographischen Nachschlagewerk verarbeitet. Aufgenommen wurden über 1000 Männer aus dem deutschen Sprachraum vom Mittelalter bis heute, in deren Leben gleichgeschlechtliche Sexualität oder Freundesliebe eine wesentliche Rolle gespielt haben. Weiteres Kriterium: Die „Probanden“ mußten bereits verstorben sein.
Vertreten ist ein breites politisches Spektrum, von dem kommunistischen Schriftsteller Ludwig Renn bis zum Neonazi-Führer Michael Kühnen - ein Vorzug des Buches. Die prominenten üblichen Verdächtigen werden ebenso erwähnt wie Rosa-Winkel-Häftlinge im Vernichtungslager Auschwitz, von denen nur wenig mehr als der Name bekannt ist. Nicht zuletzt findet sich eine bemerkenswerte Anzahl Hamburgensien.
Die ernstzunehmende historische Sexualitätsforschung geht inzwischen davon aus, daß sich die heutigen Begriffe von Sexualität nicht auf andere Epochen und Kulturen übertragen lassen. „Homosexuelle“ im heutigen Sinne gab es beispielsweise im Mittelalter nicht. Die Lebensrealitäten entziehen sich ohnehin allen Versuchen eindeutiger Einteilungen. Dem trägt auch Hergemöller Rechnung. Er will „die Unmöglichkeit demonstrieren, die Vielfalt der männlichen Lebensläufe unter die groben Kategorien ,Homo-, Hetero- und Bisexueller' zu subsumieren“.
Was aber verbindet dann den mittelalterlichen „Sodomiter“ mit dem Schwulenfunktio-när der 1990er Jahre? Hergemöller besteht darauf, daß zeitübergreifend „ein bestimmter Personenkreis von der Übermacht und dem Vorrang der Grundneigung zum eigenen Geschlecht geprägt“ sei, die – bei Männern – „das entsprechende Interesse an Frauen überwiegt“. Er fordert einen „Perspektivenwan-del“ in der Geschichtsschreibung unter dem Aspekt der Gleichgeschlechtlichkeit und bezieht sich dabei unter anderem auf eine Theorie des Wandervogel-Ideologen Hans Blüher, der um 1910 behauptete, alle Kultur- und Staatenbildung beruhe auf Männerbünden, die durch erotische Anziehung zusammengehalten würden.
Hier wird es problematisch. Hergemöller geht nicht auf den strukturellen Zusammenhang zwischen männerbündischen Gruppierungen und der Ausgrenzung von Frauen ein. Nicht nur, daß er Blühers extreme Frauenfeindlichkeit zwar erwähnt, aber nicht mit dessen Männerbund-Theorie in Verbindung bringt – auch sonst wäre eine kritischere Analyse des Phänomens Männerklüngel zu wünschen gewesen. Waren nicht auch die en-thusiastischen Dichterbünde des 18. Jahrhunderts Teil jenes Prozesses der Polarisierung der Geschlechter in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, der unter anderem darauf abzielte, den intellektuellen Diskurs Männern vorzubehalten und Frauen davon auszuschließen? Eine stärkere Einbeziehung feministischer Forschung hätte Hergemöllers Ansatz nicht geschadet.
Kritisch ist auch, daß der Autor die Begriffe „Sexualität“ und „Geschlecht“ als überhistorische Konstanten behandelt. Diese stellen jedoch in der Form, wie wir sie kennen, Konstrukte des 18. und 19. Jahrhunderts dar. Im Mittelalter oder in der Antike wurde beispielsweise unter „Männlichkeit“ nicht unbedingt dasselbe verstanden wie heute. Die Hinterfragung auch dieser Kategorien hätte das Konzept von Mann für Mann noch überzeugender gemacht.
Trotz dieser Einwände ist Hergemöllers Lexikon aber aufgrund seiner Faktenfülle ein wichtiges Nachschlagewerk und kann dazu beitragen, den immer noch vorherrschenden, „selbstverständlich“ heterosexuellen Blick in der Geschichtsschreibung zu überwinden.
Bernd-Ulrich Hergemöller: Mann für Mann. MännerschwarmSkript Verlag, 168 Mark (Subskription bis 31.3.1999: 128 Mark)
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