piwik no script img

Triebökonomie der Marktgesellschaft

Einar Schleef weilt wieder unter uns! Nicht länger ist er die Monstermaschine, die oben reingeschobene Texte unten als „Aufführungen des Jahres“ wieder ausspuckt. „Wilder Sommer“ nach Goldoni am Burgtheater ist ein ernsthaft zu debattierender Versuch  ■ Von Uwe Mattheiß

Ärger macht sich breit unter den Siebzigmarkmenschen im Parkett. Sie haben den Gegenwert einer leichten Abendmahlzeit in der Wiener Innenstadtgastronomie hingelegt, da verdonnert sie der umjubelte Theatermeister in der Burg doch glatt auf die Rasiersitze. Hälse recken die ersten zwei Stunden lang, damit man überhaupt etwas mitkriegt von der Zirkulation des Geldes und der Körperflüssigkeiten, die das Geschehen auf der Bühne vorstellt.

Optimalen Durchblick auf Einar Schleefs Gesellschaftsformation am Ausgang des bürgerlichen Zeitalters gibt es weiter hinten für siebenfuffzig. Die McSchleef-Perspektive erlaubt analytische Distanz, stellt für einen Moment den Blick auf die Gesamtheit des gesellschaftlichen Prozesses wieder her, der in der individuellen Anteilnahme verlorengeht. Einmal mehr arbeitet Schleef an der Geometrie des Theaters, gegen die Behauptung von Sinn durch Symmetrie.

Das bürgerliche Theater hat von den höfischen Vorbildern die zentral verlaufenden Linien übernommen. Gesellschaftliche Hierarchien als Informationshierarchien. Dabeisein ist wenig, näher dransein fast alles – an den Taten und Untaten der Könige, an den privaten Kabalen der Bürger, die sie als Stoffe ersetzten. Generationen gierten in Wien danach, den gediegen nasal geformten Lufthauch ihrer Burgtheatergötter zu erhaschen. Jetzt brüllen diese, gleichzeitig und scheinbar durcheinander. Beeindruckend, aber man versteht ja nix, wird später ums Buffet herum der Gesprächstenor sein. In der Kakophonie klingen plötzlich die Rhythmen einer Gesellschaft durch, mit dem Reclamheft in der Hand wird man das nie erfahren.

Auch Schleef vereinfacht, um nicht vom Vakuum der Empirie aufgesogen zu werden. Die bürgerliche Gesellschaft ist ein Wiener Mietshaus, das er von der Beletage bis zur zugigen Mansarde an eine Gruppe Venezianer mit ungeklärter Vorgeschichte und zweifelhafter Kreditwürdigkeit vermietet hat. Aufgelesen hat er sie bei Carlo Goldoni in besonderer Wertschätzung von dessen „Trilogie der Sommerfrische“. Dennoch hat er nicht Goldoni inszeniert, sondern den Nachhall von dessen Figuren in der eigenen Sprache: „Wilder Sommer“, das ist die Uraufführung des eigenen Textes, „Alle Rechte beim Autor“ steht darunter.

Ein Glück, daß der Versuch mißlungen ist

Jetzt kommt die Stunde der Goldoni-Wäscher. Der Reinheitsgrad der Schleefschen Legierung war dann auch das Thema der ersten Feuilletons danach. Irgendwie sind sie ja evident, die Figuren und ihre Konflikte, konzediert man dort, aber irgendwie sei das Schleefsche Bildertheater doch eher eine subjektivistische Irrfahrt. So sind sie halt die Genies, gell? Es gehört zu den subtilen Abwehrmechanismen gegen die Verunsicherung durch Schleefs Theater, die inkommensurable Begabung seines Urhebers zu loben.

Da wird es regelrecht zum Glücksfall, daß „Wilder Sommer“ vom Ende her betrachtet und bei aller Verwegenheit des Versuchs dann doch mißlungen ist. Die Zwangseinweisung in den Olymp unterbleibt, Vereinnahmungen scheitern. Im Zwiespalt der Gefühle beim Nachhauseweg wird Schleef wieder einer, der unter uns weilt, nicht mehr die Monstermaschine, die oben reingeschobene Texte unten als „Aufführungen des Jahres“ wieder ausspuckt. Also doch nicht die halbe Miete für Peymanns zukünftigen Spielplan am Berliner Ensemble. Der Versuch an Goldoni ist es aber allemal wert, debattiert zu werden. Er läßt sich nicht abtun mit dem Naserümpfen derer, die mit der Zeit zu (posthumen) Anhängern seiner „Sportstück“-Inszenierung geworden sind und nun monieren, daß diese Sache die vorhergehende in der Höhe der Form nicht erreicht habe.

Schleef knotet die kunstvoll verschlungenen Fäden der Komödie auf, verweigert das eskapistische Vergnügen, das dann doch nach Versöhnung trachtet, das kunstfertige Spiel mit den Inhalten zwischen den Zeilen. Was beim Venezianer fein säuberlich hintereinander abfolgt, zeigt die Schleefsche Hausgemeinschaft gleichzeitig, und zwar entzaubert und in voller Lautstärke. Schleef hat einfach alle Spielorte in der Horizontalen gestapelt, die Räume aufgeschnitten und ihnen die Tiefe genommen. Little Boxes. Triste Fickzellen. Der Mensch ist das einzige Tier, dem noch nicht einmal annähernd artgerechte Bodenhaltung zugestanden ist.

Fit-for-Fun-Fraktion von vor 250 Jahren

Die Geschichten sind irgendwie alle gleich, und man kann sie ja wirklich bei Goldoni nachlesen, wenn man's braucht. Irgendwelche alten Säcke haben Geld, das andere auch gut gebrauchen könnten. Es gibt junge Leute, deren Begehren nicht mit der Affinität der elterlichen Vermögen zusammengeht. Der fintenreiche Kampf ums knappe Gut hat weder Anfang noch Ende. Etwas, was die Komödie nur andeuten darf, kann in Schleefs Sicht explizit werden: Ökonomie und Triebökonomie folgen in der Marktgesellschaft einem Gesetz.

Interaktionen wie Transaktionen, die schnelle Nummer in wohlkalkulierter Erwartung eines momentanen Lustvorsprungs, auch der ist knappes Gut, die Körper einander Konkurrenten. Die Fit- for-Fun-Fraktion von vor 250 Jahren lechzt nach besseren Festgeldzinsen und immer neuen Tips für den sicheren Orgasmus beider Geschlechter. Als letzter Horizont die Ferienreise, das Paradox einer kontrollierten Entgrenzung, die für elf Monate marktgerechtes Verhalten im Jahr entschädigen soll. Provokation? Nein, es ist einfach so, aber es kann anders werden. Im Treppenhaus steigt der Moder auf, die Fundamente bröckeln. Der Niedergang der alten Ordnung zeitigt einen Moment von Befreiung, bevor sich die neuen Ordnungen verfestigt haben.

Hier liegen die Hoffnungen von Schleefs Pansexualismus, daß das Begehren sich einst davon befreien möge, nur Tauschverhältnisse abzubilden. Schließlich ist Sex so ziemlich das einzige Vergnügen, zu dem man/frau nichts zu verkaufen ist, was die Surrogatindustrie seit Jahren zu heftigen medialen Großoffensiven erschreckt.

Die alte Hütte sinkt in den Höllenschlund. Die Burgtheaterbühne – unendliche Weiten öffnen sich. Im blauen Licht schickt der Drehbühnenapparat die ganze Gesellschaft in einer malerischen Bootspartie zu neuen Ufern. Auflösung zur großen Oper hin, Pause, Halbzeit. Fünf Stunden darf es dauern laut Tarifvertrag, viereinhalb Stunden werden es.

Zum Wiederbeginn am Meer Weite und nochmals Weite. Textil angedeutet die Säulenhallen Weimaraner Italienphantasien. Menschen in Sonnenbrillen, koketter Bademode, dann endlich Reifröcke, Kothurne, machtvolle Chöre, fast fünfzig Schauspieler und ein Atemzug. Endlich die Konventionen des Schleeftheaters, die Feier des Kollektivs. Was die westliche Großkritik einst mit der Keule des Faschismus-Verdachts gedroschen hat, ist in Wien inzwischen sehnlichst erwartetes liturgisches Programm.

Dazwischen ein kurzer Badespaß, die Leiber bilden die Masse, die fremde Berührung am individuellen Leib nicht mehr fürchtet. Mannshohe gelbe Bälle treiben über die Köpfe der Zuschauer im Parkett hinweg. Entgrenzungserfahrung oder doch nur Ferienspektakel im FDGB-Heim an der Ostsee. Die Sache balanciert auf der Kippe zur platten Affirmation, aber vielleicht macht das gerade ihren Reiz aus.

Und dann weht der Atem der Geschichte in die Szene. Ein Schiff geht unter, Flüchtlinge landen an, flehen um Schutz. Die Französische Revolution vergießt Blut und macht Menschen heimatlos. Was Schleef jetzt will, erklärt er in einem geschichtsphilosophischen Essay im Programmheft. Er analysiert am linken Projekt den rechten Kern. Die bürgerliche Revolution ist der letzte Schritt zur vollständigen Unterwerfung der Frau.

Diesen Verlust zu betrauern, ihn in der letzten Konsequenz nicht hinzunehmen, den Kanal zu den Müttern offen zu halten, ist nach wie vor der Kernsatz des Schleeftheaters. Nur mußte man ihn diesmal in der Programmbeigabe nachlesen. Die Schönheit der Bilder betörte, doch fand sie den Rhythmus der Sprache nicht mehr. Einar Schleef war sein eigener Illustrator. Es droht opulente Opernregie.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen