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Nachts um fünf: Zinsrechnung

■ Sechsunddreißig Stunden „Unterrichtsmarathon“ am Lesumer Schulzentrum an der Bördestraße / SchülerInnen protestieren gegen Unterrichtsausfall / Cola, Chips und Pizza per Handy, und die Stimmung ist wie in den späten 60ern

„Es kommt mir vor wie in den 60er Jahren.“ Musiklehrer Reimer Schlömer ist von der frohgestimmten Schülergemeinschaft hellauf begeistert. Mitternacht im Schulzentrum an der Bördestraße in Bremen-Lesum. 68 Oberstufenschüler singen aus voller Kehle Beatles-Lieder. Doch die Unterrichtsnacht ist noch lange nicht zu Ende. Für die nächsten Stunden steht Mathematik auf dem Plan. „Fünf und sieben addiert ergibt 13“ schreibt Mathepauker Peter Schröder an die Tafel. Nachts gegen halb eins zerbrechen sich die Schüler die Köpfe über Logik und Schaltalgebra. Um fünf Uhr nachts soll Zinsrechnung gepaukt werden. Anschließend – in den frühen Morgenstunden – wird Geschichtslehrer Carlberg die Problematik des Berliner Holocaustdenkmals diskutieren.

Mit einem „Unterrichtsmarathon“ von 36 Schulstunden am Stück protestierten am Donnerstag und Freitag rund 70 der insgesamt 320 Lesumer Oberstufenschüler gegen den Lehrernotstand in ihrem Schulzentrum. Schon seit Beginn dieses Schuljahres fallen massiv Unterrichtsstunden aus. Viele LehrerInnen sind krank, und auch der Tod des überaus beliebten Gesamtschulleiters Coldewey riß Lücken in den Stundenplan. Zwanzig Grundkurse können nur zweistündig unterrichtet werden. Vorgeschrieben sind drei Stunden. Und auch in den Leistungskursen fällt immer wieder Unterricht aus. Ein Englisch-Leistungskurs finde schon seit einem Vierteljahr überhaupt nicht mehr statt, sagt Fiona Kadereit, Schülersprecherin aus dem 12ten Jahrgang. Jetzt fürchten die Schüler um ihren Bildungsstand und ihr Abitur.

Zwar dürfen zum Februar zwei neue Lehrer eingestellt werden - somit waren die Elternproteste des vergangenen Jahres teilweise erfolgreich. Das Problem bleibe aber trotz der Neueinstellungen bestehen, erklärt Mathelehrer Peter Schröder (60). „Die Nichteinstellung von jungen Lehrern ist schon dramatisch“, so der 58jährige Musiklehrer Reimer Schlömer. Nicht, daß ihm das Unterrichten keine Freude mehr bereite, aber „es fehlen frische Impulse.“

Das Durchschnittsalter der Lehrer liegt im Schulzentrum an der Bördestraße, wie in fast allen Bremer Schulen, zwischen 55 und 60 Jahren. Von insgesamt 5.410 LehrerInnen sind im Land Bremen nur 224 unter 40 Jahre alt. „Da fehlt die Spontaenität“, meint Peter Schröder, der sich eine Liege für ein paar Stunden Schlaf in die Schule mitgebracht hat.

Die Oberstufler selbst hatten die Idee eines Unterrichtsmarathons gehabt. Sie waren an die Lehrer herangetreten und konnten sie für das zweitägige Unterrichtsmarathon motivieren. „Die Idee ist originell und konstruktiv“. Der Musiklehrer Schlömer bezeugt seinen Respekt vor den Schüleraktivitäten. „Schließlich geht es hier um handfeste Dinge, nämlich die Unterrichtsversorgung.“ Mehr als die Hälfte des Lehrerkollegiums erklärte sich bereit, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag für ein oder zwei Stunden in die Schule zu kommen und die lernwilligen Schüler zu unterrichten.

Verpflegung haben sich die Protestierenden größtenteils selbst mitgebracht. Christian Gostomski aus dem 13ten Jahrgang: „Ich habe nur meine Schulsachen, etwas zu essen und viel Kaffee mitgebracht.“ In Raum 802 liegen zwischen Schlafsäcken und Taschen unzählige Colaflaschen, Chipstüten, Fladenbrote, Mandarinen und Bananen. „Hauptsache, der Zigarettenvorrat reicht,“ meint ein anonymer Elftklässler. Alkohol oder gar verbotene Drogen sollen aber nicht konsumiert worden sein, versichern die Schüler. Nur die Kaffeemaschine röchelt pausenlos. Hilfsbereite Eltern haben Kuchen vorbeigebracht. Und, anders als in den 60er Jahren, hatten Schüler per Handy beim Pizzaservice bestellt. „Ohne Handy wären wir hier ja auch völlig von der Außenwelt abgeschnitten“, so der zwanzigjährige Christian Gostomski.

Stunden vorher war die „Außenwelt“ zu Besuch. Die Schule hatte im Mittelpunkt des Medieninteresses gestanden. Zahlreiche Kamerateams hatten den Beginn der Abenteuer-Aktion gefilmt. Radioreporter interviewten Schüler, die bereitwillig die Hintergründe der Bildungsmisere erläuterten. „Wir wollen erreichen, daß sich die Öffentlichkeit wieder mit der unzureichenden Unterrichtsversorgung befaßt“, so Fiona Kadereit. Die Öffentlichkeit hat der Unterrichtsmarathon erreicht.

„So langsam werde ich müde“, gibt Fiona Kadereit gegen ein Uhr zu. Verständlich, denn der Tag ist verdammt lang gewesen. Die schlaf- und pausenlose Geistesarbeit hinterläßt ihre Spuren. Trotzdem: Am Freitag morgen nehmen sie – allerdings übermüdet – am Regelunterricht teil und melden sich am nachmittag wieder geschlossen zurück zur zweiten Etappe des Dauerpaukens.

Erst am Freitagabend um 20 Uhr endet das Unterrichtsmarathon. Die Pauker sind voll des Lobes: Die Schüler seien offensichtlich bereit zu lernen. Doch der Lehrermangel lasse es nicht zu. Und die Schüler? Haben zumindest eine neue Protestform ausprobiert. „Eine Demo,“ heißt es, „da guckt doch niemand mehr hin.“

Stefan Herrmann

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