: Armer kleiner Heintje
Ergötzen am Ausweiden: Helmut Zhuber spielt „Bartsch, Kindermörder“ im Thalia-Lastenaufzug ■ Von Christiane Kühl
Dreihandvoll Zuschauer verlaufen sich im Foyer des Thalia Theaters. Es ist still im Theater, die Vorstellung im Großen Haus beendet. Ein freundlicher Herr bietet einen letzten Gang auf die Toilette an: „Sie kommen da gleich nicht mehr raus.“ Erstmal aber geht es hinein – hinein in die Eingeweide des Theaters. Seitlich das Foyer verlassen, eine Treppe hinab, die Kantine passiert, einem langen, schlängelnden Gang folgend, wieder treppauf, durch eine Werkstatt, hinein in den Lastenaufzug. Und der Mörder ist die ganze Zeit unter uns.
Sechzehn Zuschauer sitzen auf Klappstühlen mit Wolldecken im kalten Aufzug und wundern sich. Die Tür hinter ihnen schließt sich, es ist still bis auf eine brummende elektrische Leitung. Dann steht ein junger Mann auf und sagt mit einer sehr angenehmen Stimme: „Meine Mutter hat mich sitzen lassen.“ Vorgestellt hat er sich nicht. Der Programmzettel tut es: Bartsch, Kindermörder.
Jürgen Bartsch, ungeliebter Adoptivsohn einer rheinischen Metzgersfamilie, hat zwischen seinem 15. und 19. Lebensjahr vier Jungen ermordet und metzgerstechnisch auseinandergenommen. Ein fünfter konnte aus seiner grauenhaften Waldhöhle entkommen; drei Tage später, am 21. Juni 1966, wird Bartsch verhaftet. Man verurteilt ihn zu fünfmal lebenslänglich, wandelt das Urteil zu zehn Jahren Jugendstrafe in einer Heilanstalt und läßt ihn 1976 bei der Kastration an einem Narkosefehler sterben. Für die Medien war er stets „die Bestie“, für die Psychoanalyse das traurig leuchtende Beispiel einer aus verkorkster Sozialisation resultierenden noch viel traurigeren Existenz.
Die Täter-Opfer-Ambivalenz steht auch im Vordergrund von Oliver Reeses Drama, einer Montage von Texten des Mörders an einen amerikanischen Journalisten. Man erhält dabei den Eindruck, Bartsch habe sich selbst ausgiebig mit der Psychoanalye befaßt: Am Beispiel Heintje erklärt er, wie Kindheiten zerstört werden, von seiner Angst vor Mutter und Vater berichtet er und von „Diskrepanzen, die ich selber nicht begreife“. Sechzig Minuten lang verstreut er mitleiderregende Mosaiksteine. Kindheit im Keller, Jugend im Internat, keine Freunde, keine Liebe, sexueller Mißbrauch, unterdrückte Homosexualität, permanente Diskriminierung. Helmut Zhuber gibt ihn als ernsthaften jungen Mann, der seine eigene Geschichte traumatisiert Revue passieren läßt. Mal verliert er sich in Erinnerungen, dann plötzlich stellt er direkte Fragen.
Die Inszenierung von Stephanie Kunz zieht ihre Stärke zweifellos aus der Raumsituation. Jedem Zuschauer einzeln blickt Zhuber ins Gesicht, wandelt Verurteilung in Fragen. Als reuiger Rächer der verlorenen Kindheit wird Bartsch präsentiert, von dem nicht viel mehr als ein irres Flackern der Augen auf eine Mitschuld verweist.
Bis er den Fahrstuhl in Bewegung setzt, das Licht erlischt und der Akteur in guter alter Stummfilmmanier eine Kerze unter seine nun furchterregende Fratze hält. Ausführlich weidet er sich nun an den Beschreibungen seiner sexuellen Phantasien und Greueltaten, beschreibt die nicht zu brechende Macht der körperlichen Versuchung, wird vom Opfer zum Täter und verschwindet abrupt ins Dunkel des nächtlich stillen Hauses. Formale Experimente gibt es keine, ungebrochen wird in der Fahrstuhlbox Illusionstheater behauptet. Die Ausweidung der Opfer wird durch Zhubers beeindruckendes Pychogramm eines Triebtäters zu einer Delikatesse für alle Freunde des naturalistischen Theaters.
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