: Fallensteller und Überrumpler
■ "Er spielte stets, er kämpfte nie": Matthias Sindelar gilt als der größte österreichische Fußballer aller Zeiten. Ein Leben zwischen Sport und Politik endete heute vor 60 Jahren Von Mathias Stuhr
Von Mathias Stuhr
Bei der unvermeidlichen, weil millenniumsmäßigen Wahl zum Fußballer des Jahrhunderts war alles klar: Brasilien wählte Pelé, Spanien Alfredo di Stefano und Deutschland, na wen wohl, Franz Beckenbauer. Österreich wählte Matthias Sindelar. Eine Wahl, für fußballverrückte Teens und Twens in Europa ungefähr so verständlich wie die von „Panzerkreuzer Potemkin“ zum Film des Jahrhunderts.
Bei der Wahl zu „Europas Fußballer des Jahrhunderts“ – es gewann Johan Cruyff vor: Franz Beckenbauer – wurde er immerhin auf die 13. Position gesetzt, einen Platz vor Fritz Walter. „Das hätte ich nicht gedacht, daß sie Sindelar vor die Deitschen Walter und Uwe Seeler setzen“, sagt etwas verwundert Wolfgang Maderthaner. Der Wiener Historiker und Sozialwissenschaftler, der sich schon jahrelang mit der historischen Figur Sindelar beschäftigt, freut sich über die Resonanz des Auslandes zum Todestag von Sindelar, der sich heute zum 60. Male jährt. „Bei uns reden sie mehr von Rapid“, sagt Maderthaner, der gemeinsam mit Roman Horak das ambitionierte Werk „Mehr als ein Spiel – Fußball und populare Kulturen im Wien der Moderne“ verfaßte und selbst Rapid-Mitglied ist. Der große und erfolgreichere Konkurrent des Sindelar-Klubs Austria Wien wird dieser Tage 100 Jahre alt, die Zeitungen sind voll.
Sindelar? In den Zwanzigern und Dreißigern war Matthias Sindelar, wegen seiner schmächtigen Statur in Österreich nur „Der Papierene“ genannt, so bekannt wie Diego Maradona in den achtziger Jahren (der WM-Beilage von L'Equipe war er 1998 drei Seiten wert, nur eine Seite weniger als der Argentinier). Er bewarb Molkereiprodukte („Matthias Sindelar ißt Miag-Fru-Fru“) und wurde sogar Filmstar („Roxy und ihr Wunderteam“). In Österreich, besonders in Wien, kennt man ihn heute als geschichtliche Figur, und es kursieren immer noch unzählige Anekdoten und Gerüchte über den Papierenen. Ein Großteil bezieht sich nicht auf sein ungewöhnlich großes sportliches Können, sondern auf seinen Widerwillen gegen den Austrofaschismus der dreißiger Jahre.
Der Wissenschaftler Maderthaner verweist auf die Funktion des „Mythos Sindelar“ im annektierten Österreich und beim „Nationenbildungsprozeß über den Sport“ nach dem 2. Weltkrieg. Sindelar verkörperte, was viele Österreicher in der NS-Zeit gern gewesen wären, aber nicht waren. Er beschäftigte die „österreichische Seele“ wie kein Sportler nach ihm, seine „impliziten Anti-Nazi-Aktionen“ verliehen ihm Respekt, sein geniales Spiel gab ihm Glanz.
Neben seiner Funktion als Projektionsfläche nationalen Selbstverständnisses muß die besondere „Rezeptionsgeschichte“ durch die Wiener Kaffeehausliteratur erwähnt werden. Sindelar war der Liebling der Wiener Boheme und Intellektuellen, nicht zufällig existieren noch heute unzählige Skizzen, Parabeln und Kurzgeschichten über ihn. Der Schriftsteller Friedrich Torberg, ein großer Verehrer seiner Fußballkunst, setzte ihm ein immer wieder zitiertes poetisches Denkmal, die „Ballade auf den Tod eines Fußballspielers“:
„Er spielte Fußball wie kein zweiter / er stak voll Witz und Phantasie / Er spielte lässig, leicht und heiter / Er spielte stets, er kämpfte nie.“
Auch wenn es heute schwer zu glauben ist, Wien war neben den anderen Metropolen der k.u.k. Monarchie, Prag und Budapest, das kontinentale Fußballzentrum der zwanziger und dreißiger Jahre. Das „Scheiberlspiel“ der von Austria und Rapid geprägten „Wiener Schule“ – neben den beiden begeisterten die Hoakoah, der WAC, die Admira, Wacker und die First Vienna – war ein Synonym für technisch brillanten, verspielten und erfolgreichen Fußball. Austria Wien gewann 1933 und 1936 den Mitropa-Cup, den Europacupvorläufer. Sindelar, „Ziegelbehmkind“ aus der Wiener Vorstadt Favoriten, war nicht nur Mittelstürmer von Austria, sondern auch des österreichischen „Wunderteams“, das zwischen dem 16. Mai 1931 und dem 12. Februar 1933 von neunzehn Spielen nur eines verlor, das legendäre 3:4 gegen England am 7. Dezember 1932 in London. Starke Gegner wie Schottland (5:0), Ungarn (8:2), Deutschland (6:0, 5:0) und die Schweiz (8:1) wurden in nie dagewesener Manier besiegt, nein, förmlich zerspielt.
Sindelar war an diesen Triumphzügen maßgeblich beteiligt, er schoß zwischen 1926 und 1938 in 44 Länderspielen 27 Tore. Der Publizist Alfred Polgar schrieb damals: „Er spielte Fußball, wie ein Meister Schach spielt: Mit weiter gedanklicher Konzeption, Züge und Gegenzüge vorausberechnend, unter den Varianten stets die aussichtsreichste wählend, ein Fallensteller und Überrumpler ohnegleichen [...].“
In vielen Publikationen wird Sindelar posthum zum Juden erklärt, um seine vermeintlich oppositionelle Position zu erklären. Die Austria, deren Führungsspitze viele jüdische Bürger Wiens angehörten, bekam vor allem nach der Annektion Österreichs 1938 große Probleme. Der Klubpräsident Dr. Emanuel „Michl“ Schwarz wurde abgesetzt und mußte emigrieren. In den Märztagen 1938 traf der Legende nach Sindelar auf Dr. Schwarz: „Die neue Vereinsführung hat uns verboten, daß ma Ihna griaß'n. I, Herr Doktor, wer' Ihna oba immer griaß'n.“ Sindelar wollte sich mit dem „Naziregime nicht identifizieren“, wie der damalige deutsche Reichstrainer Sepp Herberger bemerkte, als er versuchte, Sindelar für die neue „großdeutsche Supermannschaft“ zu gewinnen, die zur WM 1938 nach Frankreich fahren sollte. Sindelar wollte nicht, spielte aber beim sogenannten Anschlußspiel, von den Nazis „Deutschösterreich- Altreich“ genannt. Am 3. April 1938 schlugen die überlegenen Österreicher in Wien die Deutschen mit 2:0. Sindelar, der auf rotweißen Trikots bestanden hatte, schoß das 1:0, nachdem er mehrere Male vor dem leeren Tor abgedreht hatte. Die lokale NS-Führung, die angeblich österreichische Tore untersagt hatte, war entsetzt, während und nach dem Spiel kam es zu anti-deutschen Sprechchören der 60.000 Zuschauer.
Sindelar wurde bei der Gestapo zwar als „Sozialdemokrat und Judenfreund“ geführt, war aber auch ein Opportunist, wie die meisten seiner Landsleute. Er erwarb im August 1938 das arisierte Kaffeehaus des stadtbekannten Cafetiers Leopold Simon Drill und führte es als „Café Sindelar“. Zugute halten kann man ihm, daß er freiwillig das etwa Zwanzigfache des damals üblichen Preises zahlte, annähernd den tatsächlichen Wert der Immobilie. In Österreich ist die Erinnerung an Sindelar immer mit dieser dunklen Periode verbunden, außerhalb des Alpenlandes muß er heute mehr denn je als Verkörperung des intellektuellen, „linken“ Fußballs herhalten – was immer das bedeutet.
Matthias Sindelar kam am 23. Januar 1939 ums Leben, wenige Tage vor seinem 36. Geburtstag. Der Polizeibericht sprach von einem damals durchaus möglichen Unfall. „Tod durch Kohlenmonoxyd“, hieß es, ein Selbstmord gilt als wahrscheinlicher, einige Wiener Zeitungen sprachen gar von Mord. Zu seiner Beerdigung im Januar 1939 auf dem Wiener Zentralfriedhof kamen 15.000 Menschen, und noch heute gedenkt der österreichische Fußball an jedem 23. Januar seines größten Fußballspielers aller Zeiten.
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