: Schmerzlinderung durch Synergie
Auf der Suche nach lebensfähigen Pionierorganismen: Im Berliner Künstlerhaus Bethanien werden gemeinschaftliche Produkte aus Kunst und Wissenschaft gezeigt – technologieabhängig bleiben beide Seiten. Eine andere Art der Wirklichkeitsvermessung ■ Von Cord Riechelmann
Die Verbindung reicht zurück bis Demokrit. Aber was tun, wenn Wissenschaft und Kunst nicht bloß im Dialog stehen, sondern auch gemeinsam Exponate produzieren? Manche haben bei dieser neuen Konstellation ihre Zweifel: So würde Marcel Reich- Ranicki, wie er sagt, seinem Arzt nicht mehr trauen, wenn dieser sich als Kenner moderner Lyrik enttarnt – und deshalb nicht mehr genug Zeit auf das Lesen seiner Fachliteratur verwendet.
Auch sonst bleiben bei einem solchen Unternehmen genug Fragen. Denn daß in ihren jeweiligen Gebieten ausdifferenzierte Abgrenzungsexperten sich einem Prozeß hingeben, der Arbeitsteilung aufhebt, ist kaum zu erwarten. So verstehen sich denn auch die Kuratoren – Iris Dik und Peter Henkes – der vom Berliner Künstlerhaus Bethanien aus Amsterdam verändert übernommenen Ausstellung Formule 2.1 als ein 0190-Büro. Für die Dauer einer Ausstellung, manchmal auch länger, werden ein Künstler und ein Wissenschaftler durch ihren Vermittlungsservice zusammengebracht und mit der Ausführung eines Projektes betraut.
Cornelia Hesse-Honegger, im Zoologischen Museum der Universität Zürich ausgebildete und erprobte naturwissenschaftliche Illustratorin, tritt allein auf. Sie hat in der Umgebung und Hauptwindrichtung von Atomkraftwerken, Wiederaufbereitungsanlagen und Atomtestgebieten in der Schweiz, in Deutschland, England und den USA Insekten – vorrangig die als besonders standortfest geltenden Wanzen – gesammelt und mit Hilfe eines Elektronenmikroskops haargenau nach der Natur auf Aquarellen abgebildet. Diese Form der graphischen Ergänzung naturforschender Darstellungen gehört von den klassischen Anatomen über die Pflanzen-Systematiker bis zu Darwins „Expression of Emotions in Men and Animals“ zum auch heute noch – trotz Fotografie – nicht überholten Repertoire biologischer Wissenschaften. Hesse- Honeggers Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf solche Tiere, die äußerlich sichtbare Deformationen und Schädigungen wie stummelförmige Fühler, verkürzte Hinterbeine oder verschrumpelte Flügel aufweisen. Das Fragen, wie das Verhältnis von geschädigten Individuen zu solchen, die nicht deformiert sind, aussieht und ob es dabei signifikante Unterschiede zu Vergleichspopulationen in Regionen, die nicht von Atomkraftwerken beeinflußt werden, gibt, nicht beantwortet werden bzw. nicht beantwortet werden sollen, ist eine Sache. Andererseits muß man dieser unaufgeregten Bestandsaufnahme zugute halten, daß sie nicht unter dem Banner der Sorge vorgetragen wird. Nur mit einer Wissenschaft, die z.B. im Streitfall Trittin/Atomindustrie nicht nur gutachterlich agiert, hat diese Art der Wirklichkeitsvermessung nichts mehr zu tun.
Der dänische Künstler Henrik Plenge Jakobsen läßt eine moderne Erfolgsgeschichte erzählen. Seinen Ausstellungsraum stellt er der Teltower Biotechnologie Firma Co.don unter dem Titel „remodelling the future“ zur Verfügung. In einem mit esoterischen Klängen unterlegten Werbevideo mit dem Titel vom „Trauma zum Träumen“ kann man verfolgen, wie durch die Verbindung von jahrhundertelanger Grundlagenforschung, deren Fehlannahmen und Revisionen, gekoppelt mit modernem Unternehmergeist erfolgreich einem Grundübel, der Osteoporose, dem Knochenabbau, ans Mark gegangen wird. „Nur kompetente Teamarbeit garantiert den Erfolg“. Interessanter als die im Katalog aufgestellte Behauptung, moderne Gentechnik ermögliche Wissenschaftlern ohne Berufswechsel Künstler zu werden, ist, daß an diesem Projekt sehr gut studiert werden kann, wie wenig sich die Träume der Genetiker seit den 20er Jahren verändert haben: „Life without pain. Mobility without restriction.“
Daß die Zusammenarbeit eines Künstlers mit einem Wissenschaftler auch zu einem experimentellen Set mit empirischer Datenerhebung führen kann, zeigt das in dieser Hinsicht ambitionierteste Werk der Ausstellung: das Teletaktil Projekt von Georg Winter und Rainer Miller. Ausgehend von der Tatsache, daß Grooming (soziale Fellpflege) bei nichtmenschlichen Primaten auch spannungsabbauende, also befriedende Wirkungen zeitigt, haben die beiden Übungen für Menschen vor dem Bildschirm entwickelt. Dabei geht es darum, sich entweder selbst oder von anderen während des Fernsehens sanft den Hinterkopf zu streicheln oder berühren zu lassen. Telegrooming am Hinterkopf in räumlicher Nähe zum visuellen Cortex kann einerseits endogen die Freisetzung von Endorphinen fördern und so schmerzlindernd wirken und andererseits die Beziehungen zwischen den beteiligten Personen fördern. Die für das Experiment erforderliche Anleitung sowie der Datenerhebung dienende Fragebogen können in der Ausstellung erfragt werden.
Da das ursprünglich geplante Objekt der Zusammenarbeit des amerikanischen Künstlers Mike Tyler mit dem Molekularbiologen Jos Mol, eine neue, genmanipuliert erzeugte Pflanze auszustellen, an den rechtlichen Bestimmungen scheiterte – noch darf man sowas nur im Labor –, haben die beiden sich in die Zukunft verflüchtigt. In ihrem Video sieht man zwei Astronauten in der Wüste des Death Valley und der isländischen Lava- und Gletscherlandschaft sogenannte Pionierorganismen aussetzen. Danebengeschnitten ist der persönliche Bericht einer älteren Frau. Besonders bei dieser Arbeit wird man den Verdacht nicht los, daß interdisziplinär vor allem eine Umschreibung für die Unterhaltung eines Biologen mit einem Künstler über Außerirdische ist.
Einen eher angewandten Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen hat die dänische Künstlergruppe N55. Ihr „Modular Hydronic Unit.“ stellt eine Konstruktion aus PVC-Rohren, auf denen Pflanzen wachsen, einem Bewässerungssystem und Neonleuchten dar, mit der man in seiner Wohnung Gemüse anbauen kann. Mit solchen Konstruktionen soll die Kluft zwischen hochentwickeltem Spezialistentum in Kunst und Wissenschaft und den jeweiligen privaten Lebenswelten verringert und sozusagen als Wegweiser in humanere Zeiten dienstbar gemacht werden.
Betrachtet man die Ausstellung unter dem Aspekt, was eine solche Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft in ihrem Ergebnis Wissenschaftlern außer einem bloßen Bildungserlebnis sagen kann, dann muß man den Wert eher niedrig ansiedeln. Was auch daran liegt, daß in kaum einer Arbeit eine Auseinandersetzung mit den extrem technologieabhängigen Voraussetzungen moderner Wissenschaft stattfindet und die postulierten Synergieeffekte den wenigsten Arbeiten anzusehen sind. Oder wie es ein Besucher auf eine Kreidetafel geschrieben hat: Ich verstehe nicht, was ich sehe.
Formule 2.1, bis 21.2., Künstlerhaus Bethanien, Berlin
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