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Zweite Chance statt Revolution

■ Im neuen Jahr, das heute in China beginnt, werden die zunehmenden Bauernunruhen und Arbeiterrevolten die Regierung beschäftigen. Ursache für die Proteste sind Korruption und Massenarbeitslosigkeit Aus Peking

Zweite Chance statt Revolution

Keiner weiß, wie viele es sind, niemand kennt ihre Namen. Mal spricht man von Bauern, die sich gegen Steuereintreiber wehren. Mal sind es entlassene Stahlarbeiter, die eine Eisenbahn stoppen. Mal ist die Rede von Rentnern, die auf der Straße ihr Altersgeld einfordern. Die Meldungen häufen sich. Und mit jeder Nachricht, die das sorgfältig geknüpfte Informationsnetz der staatlich kontrollierten Medien durchdringt, nährt sich der Verdacht, den kommunistischen Machthabern in Peking drohe der offene Widerstand.

Schon die offizielle chinesische Statistik räumt für das Jahr 1998 fünftausend öffentliche Protestaktionen unterschiedlichster Motivation ein. Das dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein. Denn wer schaut schon hin, wenn 3.000 Bauern in der Agrarprovinz Hunan niedrigere Steuern fordern und eine Tränengasbombe der Polizei einen Demonstranten tötet? Wer wacht auf, wenn in Sichuan zwei Stahlarbeiter verurteilt werden, weil sie zuvor mit Kollegen im Protest über Lohnverzug in der Höhe von einer Million Mark den Zugverkehr lahmlegten? Wer nimmt Anteil, wenn hundert Schreiner in der Provinzhauptstadt Wuhan von ihrem früheren Arbeitgeber die seit drei Monaten nicht ausgezahlte Betriebsrente einfordern?

Die Protestaktionen von Hunan, Sichuan und Wuhan wurden im Januar von Menschenrechtsorganisationen gemeldet und von westlichen Medien verbreitet. Daraus läßt sich leicht ein falscher Schluß ziehen: Zusammenaddiert mit den Grauziffern der Statistik und den historischen Erfahrungen mit Bauernaufständen reden manche westliche China-Beobachter bereits eine vorrevolutionäre Situation herbei. Man zieht Vergleiche zur Lage Osteuropas vor 1989.

Doch nichts ist irreführender. Im Alltag der Volksrepublik China stehen die protestierenden Arbeiter und Bauern ziemlich allein da. Dagegen spricht nicht einmal die schnelle Vereinnahmung ihrer Aktionen durch die Dissidentenbewegung im Ausland.

Zur Besonderheit der Boomjahre gehörte in China immer, daß auch die Krise andauerte. Zwei Drittel der Bevölkerung verharren bis heute in bitterer Armut auf dem Land. Das Neue an der derzeitigen Krisensituation, die sich mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der asiatischen Nachbarländer und der Schließung bankrotter Staatsbetriebe erklärt, ist die wachsende städtische Arbeitslosigkeit. Doch ein Arbeitsloser in der Stadt ist in China auch heute noch reicher als ein Bauer auf dem Dorf. Und er weiß das. Genauso wie die Bauern mehrheitlich wissen, daß es ihnen heute besser geht als zu Beginn der chinesischen Reformperiode vor 20 Jahren. So regt sich zwar an vielen Orten Protest gegen Korruption und die Politik der lokalen Behörden. Eine neue Widerstandsbewegung aber droht Peking nicht.

Man muß den Opfern der Krise nur genau zuhören, um die Mischung aus aktueller Verzweiflung und historischem Optimismus, aus gefühlsmäßiger Protestneigung und rationalem Einsehen in die bitteren Zeiten zu verstehen, die für die Volksrepublik heute typisch ist. Drei Frauen über vierzig in einem Friseursalon in Jinzhou, einem Vorort der Hafenstadt Dalian im Nordosten Chinas, sind Musterbeispiele für diese Haltung. Bis vor wenigen Monaten arbeiteten sie in der vor 80 Jahren gegründeten Textilfabrik gegenüber ihrer Arbeitersiedlung. Dann wurde die Hälfte der 16.000 Angestellten im Rahmen der von Peking verfügten Rentabilitätsvorgabe der Staatsbetriebe entlassen. Die Frauen waren zu alt, um bleiben zu dürfen.

Eine von ihnen eröffnete in einer noch von den japanischen Besatzern errichteten Baracke den Salon. Die anderen beiden leisten ihr an einem Tag ohne Kundschaft Gesellschaft – dabei schimpft es sich leichter über die Arbeitslosigkeit. Doch die drei erinnern sich auch der hoffnungslos veralteten Maschinen in ihrem Betrieb und der seit Jahrzehnten mangelhaften Stoffqualität. „Ich habe 28 Jahre in der Fabrik gearbeitet und viel für das Unternehmen geleistet“, erzählt die Arbeiterin auf dem verrosteten Friseurstuhl. „Aber ich weiß auch, daß ein Unternehmen mit Gewinn arbeiten muß. Die Privatisierung ist für unsere Fabrik der einzig denkbare Weg.“

Damit greift sie den Pekinger Reformern sogar voraus. Niemand in der Kommunistischen Partei redet heute von der Privatisierung der Staatsbetriebe, man spricht nur von neuen Eigentumsformen und sichert vorsichtig das private Besitzrecht in der Verfassung ab. Gleichwohl sind sich Partei und Volk in einem einig: Die Zeit des staatlichen Wirtschaftsdirigismus ist vorbei, die alten Betriebe der Mao-Ära sind zum Scheitern verurteilt. Die Textilarbeiterinnen in Jinzhou verlangen nicht ihre Wiedereinstellung, sondern eine zweite Chance, von der sie selbst nicht wissen, wo sie liegt.

Und der Konsens reicht noch weiter: Ein Unternehmen muß mit Gewinn arbeiten. Das heißt nicht, jeder sei seines Glückes Schmied. Aber schon die Abkehr vom Glauben an die Verantwortung des Staates für das Unternehmen verringert die Ansprüche der Arbeiter an die Pekinger Zentrale. Parallel dazu gedeiht der Unternehmergeist, der schon heute Millionen Arbeitslose als Mandarinenverkäufer, Handwerker und Müllsammler auf die Straßen treibt. Sie alle verzichten auf Protest.

Mit aufgeklärter Distanz zur Regierung sprechen auch die Meistgeprüften des vergangenen Jahres: die von der Jahrhundertflut im Sommer 1998 geprüften Bauern entlang des Jangtsekiang. In der Gemeinde Paizhou westlich von Wuhan brach im August der Damm. Dutzende ertranken.

Die Überlebenden hausen heute in notdürftig wiederhergerichteten Hütten. Doch allen Nachfragen des ausländischen Reporters widerstehend, schimpfen sie nicht auf ihre Parteioberen. Statt dessen loben die Menschen die von Peking gesteuerten Evakuierungsmaßnahmen während der Katastrophe und kritisieren nur die korrupten örtlichen Kader.

Die Erfahrung ist nicht neu. Wo immer man heute in China mit Arbeitern und Bauern spricht – sie machen es sich nicht leicht mit ihrem Urteil über die Politik, ganz gleich wie schwer sie es im Leben haben. Als würde die ideologisch imprägnierende Wirkung der Kulturrevolution fortbestehen. Als wolle man den unter Deng Xiaoping in 20 Jahren gewonnenen Spielraum nicht kurzerhand verspielen. Und so verstehen sich auch die meisten Proteste: nicht als politisches Aufbegehren gegen die Macht der Kommunisten, sondern als lokaler Protest gegen die Gesetzesverstöße untreuer Staatsdiener. Daß die beklagten Gesetzesverstöße meist im politischen System des Einparteienstaats verankert sind, ahnen die wenigsten.

Doch selbst wenn die Betroffenen die Natur der Korruption begriffen hätten, würden sie von der Lehre der maoistischen Wirklichkeit nicht abrücken. Die aber heißt: Revolution, nein danke. Zu lebendig ist bei Millionen Chinesen die Erinnerung an den Alptraum der Kulturrevolution.

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