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Symbiose von Extravaganz und Klassizität

■ Das Label Edition R.Z. veröffentlicht ungewöhnliche Aufnahmen zeitgenössischer Komponisten. Mit zwei CDs Franco Evangelistis ist jetzt ein neuer editorischer Wurf gelungen

Im Sommer 1987 erschien eine schmucke Picture-Disc mit dem Konterfei eines Fußballs. Ror Wolfs radiophone Collagen „Der Ball ist rund“ und „Schwierigkeiten beim Umschalten“ exerzierten die Fußballberichterstattung der öffentlichen Rundfunksender. Fein säuberlich aneinander geschnitten, fanden sich die metaphernreichen Floskeln der Fußballsprache hinreichend enzyklopädiert. Das Label, das mit Wolfs Collagen ballfiebrige Träume wahr machte, hieß Edition R.Z., ein Ein-Mensch-Unternehmen aus Charlottenburg, das mit seinen zwei bis drei Veröffentlichungen im Jahr wahrscheinlich aus jeder statistischen Erhebung herausfällt.

Ror Wolfs Collagen sind keineswegs typisch für das Profil der Edition R.Z., in dem die Initiale Robert Zanks seit über einem Jahrzehnt für den Core der zeitgenössischen klassischen Musik einstehen. Ihr Erscheinen auf R.Z. wirkte aber insofern folgerichtig, als bisherige Tonträger stets als kuriose Symbiose von Extravaganz und Klassizität, von Rand und Mitte daherkamen. Jede Neuerscheinung stellt die irritierende Frage, wie ihr Fehlen so lange unbemerkt bleiben konnte, und vermittelt gleichzeitig das Gefühl, man habe der Angelegenheit nun eigentlich nichts Wesentliches mehr hinzuzufügen.

So konnte die erstmalige Herausgabe einer Probe auf Schallplatte – Hermann Scherchen und das Orchester der Radiotelevisione della Svizzera Italiana üben Beethovens 6. Sinfonie – die vermeintliche Glätte einer fertigen Produktion auf sich selbst beruhen lassen und den entscheidenden Schritt von Partitur zu klingendem Werk als eigenständiges Moment ästhetisieren. Kommentar und Korrekturen des 75jährigen Scherchen manifestieren dabei nicht nur das Musikverständnis einer der zentralen Dirigentengestalten des 20. Jahrunderts, sondern vermitteln auch einen plastischen Zugang zur pastoralen Sinfonie. Und auch die zweite Scherchen-Veröffentlichung der Edition R.Z., eine Instrumentierung von Bachs „Musikalischem Opfer“ durch Roger Vuataz, verrät in ihrem weder romantisierenden noch historisierenden Ansatz mindestens soviel über die Bach-Rezeption der Neuen Musik wie die Arrangements von Arnold Schönberg und Anton Webern.

Mit dem Gesamtwerk von Franco Evangelisti auf einer Doppel-CD wurde jetzt ein weiterer editorischer Meilenstein gesetzt: Der 1926 in Rom geborene Komponist zählte in den fünfziger und sechziger Jahren zu den entschiedensten Protagonisten der Neuen Musik. Auf dem Gebiet der elektronischen Musik leistete Evangelisti bis heute nachhallende Pionierarbeit. Als Mitbegründer der sich ausschließlich aus Komponisten zusammensetzenden „Gruppo die Improvvisazione Nuova Consananza“ – der auch Aldo Clementi und Ennio Morricone angehörten – gab er entscheidende Impulse für experimentelle Improvisationskonzepte. Und bis heute hielt der Tonträgermarkt kein Stück des italienischen Komponisten bereit. Einzige Ausnahme ist eine CD mit Aufnahmen der „Gruppo di Improvvisazione“, die bezeichnenderweise ebenfalls in der Edition R.Z. erschienen ist.

Die beständigen Zweifel, die die Entwicklung seines Musikverständnisses prägten und die schließlich dazu führten, daß er zwischen 1962 und 1979 überhaupt nicht mehr komponierte, passen schlecht zu dem Eindruck, den Fotos von Evangelisti vermitteln. Die abgeklärte Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, ist kein vordergründiges Merkmal seiner Musik. Im Gegenteil, die Suche nach neuen Kompositionsmechanismen, die das konstruktivistische Erbe Anton Weberns fortführen sollten, ohne sich der aus seiner Sicht selbstergötzenden Flüchtigkeit der Musik von Pierre Boulez und mehr noch Karlheinz Stockhausen anzubiedern, führte zu meist kurzen, streng durchrationalisierten Werken.

Da ist es als doppelt geglückter Kunstgriff zu verstehen, daß einige der Stücke in verschiedenen Fassungen auf der CD enthalten sind. Zum einen folgt die Redaktion damit dem diesen Stücken innewohnenden Gebot des wiederholten Hörens. Zum anderen öffnen die abweichenden Versionen Einblicke in das Verhältnis von notentextlichem Objekt und interpretierendem Subjekt, ein Verhältnis, das mathematisch organisierten Werken der fünfziger Jahre oft abgesprochen wurde. Die „Proiezioni sonore“ (1955–56) für Klavier beispielsweise dauern bei David Tudor eine ganze Minute länger als bei Aloys Kontarsky.

Für die Qualität der hier versammelten Einspielungen verbürgt sich nicht nur die Liste der InterpretInnen, die in den vergangenen Jahrzehnten in enger Zusammenarbeit mit den KomponistInnen oft genug für das Gelingen eines neuen Werks zu sorgen hatten. Viele der Aufnahmen entstammen den Archiven öffentlicher Rundfunkanstalten, Institutionen also, die für ihren Zwang zur wertfreien Dokumentation bekannt sind: Ein Klavier, zwei Mikrofone und ein Tonbandgerät galten als hinreichend, um das Klanggeschehen spektakellos und unmittelbar einzufangen. Das Resultat ist ein Klangbild, das Zeuge seiner eigenen Geschichte wird: nüchtern, unverblümt und sachlich.

Edition R.Z. ist vielleicht das beste Argument gegen die Dringlichkeit spartenkultureller Subventionen. Denn versteht man kulturelle Nischen und Defizite auch immer als ökonomische, dann läßt Wettbewerb eine Unterversorgung gar nicht erst zu: Jede Nachfrage schafft sich ihr Angebot. Der Witz „Wie viele Volkswirte braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln?“ – „Keinen. Das regelt der Markt“ trifft den Kern dieser stumpf schematisierenden Fehlleistung. Man übersieht leicht, daß die vermeintliche Schlafäugigkeit kleiner und kleinster Labels auf einem Engagement beruht, das in seiner Selbstaufgabe fast religiöse Züge trägt und mehr verdient als ein anerkennendes Schulterklopfen. Björn Gottstein

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