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Weite Suchbewegungen

■ Beim Lesen über die Schulter geschaut: aus dem jetzt publizierten Exzerptenband der Marx-Engels-Gesamtausgabe läßt sich der Fortgang des Marxschen Denkens rekonstruieren

Vor dreißig Jahren, da wußte jeder westdeutsche Linke, was mit den „blauen Bänden“ gemeint war: nichts anderes als die Marx-Engels-Werkausgabe, abgekürzt MEW. 42 superbillige, raumverschlingende Werke, aber beileibe nicht der ganze Marx und der ganze Engels. Die „blauen Bände“ waren auch nicht die einzig blauen. Da gab es noch die sagenumwobenen blauen zwölf Bände der „MEGA“, der Marx-Engels-Gesamtausgabe, erschienen in der Sowjetunion bis zu den frühen 30er Jahren. Die Edition basierte zum Teil auf Fotokopien von Orginalschriften im damaligen SPD-Archiv. Deren Ablichtung durch die sowjetische Konkurrenz hatten die SPD-Vorständler zähneknirschend zugestimmt, verboten sie allerdings später angesichts der „Sozialfaschismus“-Schimpfkanonade der sowjetischen wie der deutschen Kommunisten.

Wenig später ging es auch mit der MEGA zu Ende. Ihr Herausgeber, der zu den Bolschewiki konvertierte David Rjazanov, wurde nach 1928 als „faule Frucht vom Baum der zweiten Internationale“ entlarvt, seines Amts enthoben und während der großen „Säuberungen“ ermordet. 1932 schlug die Todesstunde der ersten MEGA. Befeuert durch den freilich nur auf den Westen beschränkten Erfolg der MEW beschlossen ihre Herausgeber, die ML-Institute in Moskau und (Ost-)Berlin, erneut das MEGA-Projekt zu starten. Die Enthusiasten überwanden den zähen Widerstand ihrer an den Originalen der „Klassiker“ wenig interressierten Parteileitungen, und los ging's. Die Originalmanuskripte lagen jetzt zu 30 Prozent in Moskau, zu 70 Prozent in Amsterdam, in der Obhut des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte. Die Holländer zeigten sich fair und ließen die MEGA-Forscher ran an die Handschriften. Das Unternehmen, berechnet auf 170 Bände, florierte. 40 Bände erschienen in den 80ern.

1989 schien dann die MEGA zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert mega-out. Aber so leicht gaben die Archivmäuse sich nicht geschlagen. Das Institut für Sozialgeschichte sprang ein, nach ihm die neugegründete Brandenburgisch- Berlinische Akademie der Wissenschaften, die Sozialdemokraten vom Karl-Marx-Haus in Trier und viele andere. Es fanden sich neue Geldquellen. Dieter Henrich, allseits geachteter Philosoph, evaluierte die bisher geleistete Arbeit positiv. So fiel die Entscheidung fortzufahren. Diesmal unter dem Dach einer Stiftung, unter Anleitung einer fachkundigen, international besetzten Redaktionskommission. Das Projekt wurde von 170 auf 114 Bände zurückdimensioniert, die stark gelichtete Mannschaft nahm erneut die Arbeit auf.

Jeder der neu erscheinenden Bände ist Beweis, daß die Axt der Wende nicht alles, was am Realsozialismus akzeptabel war, abgeholzt hat und damit Grund zur Freude. So auch der jüngst erschienene dritte Band der vierten Abteilung der neuen MEGA, die Exzerpte, Notizen und einen Marginalienband umfaßt. Zum ersten Mal werden hier das Notizbuch von Marx aus den Jahren 1844–47 und die Buchexzerpte des Jahres 1845 vollständig veröffentlicht. Herausgeber ist das Team vom Moskauer „Russischen Zentrum für Aufbewahrung und Studium der Neuesten Geschichte“ (RC). Hinter „RC“ verbirgt sich der erneuerte und nunmehr vollständig „westlich“ finanzierte Mitarbeiterstamm des alten Moskauer Instituts für Marxismus-Leninismus.

Spätestens hier stellt sich dem der Marxphilologie unkundigen Leser die Frage: Was soll's? Welchen Erkenntnisgewinn bieten Literaturlisten und (im Fall des jüngst erschienenen Bandes) kaum kommentierte Exzerpte von nationalökonomischen Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts? Der potentielle Leser kann beruhigt werden, denn der Gewinn der Lektüre ist immens. Zum ersten erschließt sich, indem wir seine Gedankenwerkstatt betreten, ein Bild eines „work in progress“. Wir schauen Marx beim Lesen über die Schulter und rekonstruieren aus dem Charakter der Exzerpte den keineswegs gradlinigen Fortgang seines wissenschaftlichen Interesses.

Zum zweiten sehen wir die Verflechtung der bereits weit avancierten Kritik von Marx an der nachhegelschen Philosophie mit seinen ökonomischen Studien, die ihm als Material zur Kritik haltloser Spekulation dienten. Zum dritten erweist sich, daß gerade die in Band IV, 3 exzerpierten Schriften, die „Brüsseler Exzerpte“, die von Marx in den späteren Phasen seiner Arbeit als Materialsammlung verwandt wurden, von ihm mit zum Teil ganz unterschiedlicher Akzentsetzung eingesetzt wurden. Viertens und am wichtigsten, müssen wir uns den fragmentarischen Charakter des ganzen Marxschen Werkes vor Augen halten, bei dem Exzerpten naturgemäß eine viel größere Bedeutung zukommt, als im Fall eines abgeschlossenen ×uvres. Marx kritisierte nicht nur die ideologischen Positionen seiner Autoren, er baute auch auf ihnen auf. Gleichzeitig lernte er aus den Werken der Ökonomen den Alltag der kapitalistischen Produktion von der Fabrikhalle bis zur Börse.

Die Herausgeber der jetzt publizierten Exzerpte unterscheiden sich vorteilhaft von den Moskauer Kollegen, die in den 80er Jahren den Vorläuferband mit den Exzerpten der Jahre 1843/44 herausgaben. Im Realsozialismus waren die Wissenschaftler gezwungen, in ihrer Kommentierung und zum Teil auch in der Anordnung des Materials von der fixen Idee auszugehen, Marx wäre eigentlich wie auf einer Schiene rollend, einem unerklärten Fahrplan folgend, von Erkenntnis zu Erkenntnis geeilt, wobei ihm seine Parteinahme fürs Proletariat als untrüglicher Kompaß gedient habe. Von diesem Korsett sind die Wissenschaftler heute befreit.

In der Einleitung zum zu IV, 3 gehörenden „Apparatband“ und in der überaus sorgfältigen Kommentierung bzw. Erklärung der Exzerpte vermeiden sie jede „Einordnung“ ins spätere Marxsche Gedankensystem. Sie verweisen auf spezifische Interessen, so Marx intensive Beschäftigung mit der Rolle der Maschinerie im Produktionsprozeß, mit dem Charakter der Arbeiterassoziationen, mit den Fabrikkämpfen und deren unterschiedlicher Bewertung. Ein Urteil bleibt dem Leser überlassen.

Die Exzerpte des Bandes IV, 3 zeigen Marx inmitten einer großangelegten Suchbewegung. Er hat die „Pariser Manuskripte“ mit ihrer grundlegenden Kritik des durchs Privateigentum entfremdeten Menschen abgeschlossen, seinen ehemaligen Freunden, den Linkshegelianern, hat er in der „Heiligen Familie“ zum ersten Mal eine Lektion erteilt: statt des abstrakten Kategorienhimmels die Begriffe der politischen Ökonomie und deren Realität. Marx sträubt sich noch gegen die Arbeitswerttheorie des eiskalten David Ricardo, der er sich wenig später anschließen wird, um sie noch später mit der Entdeckung des Doppelcharakters des Werts (als Gebrauchs- und Tauschwert) und der Arbeit, schließlich mit der Entdeckung des Mehrwerts, zu revolutionieren. Gerade weil die schließlichen Resultate der Marxschen Theorie vielen von uns heute fragwürdig geworden sind, gewinnt die Zeit des Tastens und der Unsicherheit neue Bedeutung.

In seinen „Flüchtlingsgesprächen“ läßt Brecht den Physiker Ziffel über die Kosten räsonieren, die die Aneignung des Marxismus heute (1940) verursacht. 20.000 Goldmark, und das ohne die Schikanen. „Darunter kriegen sie nichts Richtiges, höchstens so einen minderwertigen Marxismus ohne Hegel oder einen, wo der Ricardo fehlt usw.“ Der neue Band der MEGA ist teuer, Hegel und Ricardo kommen nur am Rande vor. Aber mitten in der Auflistung bereits gelesener oder noch zu lesender ökonomischer Literatur findet sich plötzlich einer der berühmtesten Texte von Marx: die Thesen „ad Feuerbach“. Wir begreifen, daß Marx gerade dabei ist, aus dem Schatten des Meisters herauszutreten, seine eigene Auffassung des Materialismus als „sinnlich-praktische Tätigkeit“ zu entfalten. Und vor der 11. These „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt; es kömmt drauf an sie zu verändern“, hat er einen waagrechten Strich gesetzt. Resümee? Aber welches? Wer waren „die Philosophen“? Wird mit dem zweiten Halbsatz dem philosophischen Denken im Namen der revolutionären Aktion der Garaus gemacht? Hatte Engels recht, als er das Semikolon durch ein Komma ersetzte und, redigierend, fortfuhr, „es kommt aber darauf an...“? Fragen, die sich 1996 Lehrer und Studenten der Humboldt-Uni stellten, wo in Goldlettern das veränderte Marx- Zitat prangt. Fragen auch bei der Lektüre dieses schönen Bandes der MEGA. Christian Semler

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