: Ein letzter Sliwowitz für die Toten
In Bukos, einem Dorf im Kosovo, lebten Albaner und Serben friedlich zusammen. Innerhalb einer Woche wurden vier Menschen erschossen. Nun herrscht tiefes Mißtrauen ■ Aus Bukos Thomas Schmid
Hinter dem Schuppen scharren Hühner und vor dem Haus hängen zwei nasse Hemden, geregnet hat es nicht. Das kleine Gehöft kann also nicht verlassen sein. Doch kein Klopfen hilft. Die Tür ist verschlossen. Auf dem Küchentisch steht, von draußen durchs Fenster gut zu erspähen, eine Flasche Sliwowitz und daneben ein zur Hälfte geleertes Glas. „Djako! Komm raus! Wo steckst du denn? Djakooooo!“ Endlich taucht der Mann irgendwoher auf. Hat er sich versteckt? Oder hat ihm bloß der Schnaps ein Nickerchen verordnet? Jedenfalls hat Djako Milić Angst. Die nächste Stellung der UÇK, der kosovo-albanischen Guerilla, ist nicht weit entfernt, und Djako Milić ist Serbe.
Seit seine Mutter vorsichtshalber den Kosovo verlassen hat und nach Kraljevo, in die Sumadija, das „Herz Serbiens“, gezogen ist, lebt Djako Milić allein in Bukos. Er arbeitet in der Zinkfabrik, wenn es die Sicherheitslage zuläßt. Jetzt ist das nicht der Fall. Wie die meisten Arbeiter hat er zu Hause ein paar Hühner und eine Kuh. Von den 50 serbischen Familien, die im Dorf 30 Kilometer nordwestlich der Hauptadt Priština lebten, seien nach dem Mord an den Brüdern Milošević, so berichtet er, gerade noch sieben Familien geblieben.
Von den etwas mehr als 50 albanischen Familien hingegen sei kaum jemand geflüchtet. Vor dem Mord habe es zwischen den Albanern und Serben keine Probleme gegeben, „man war zwar nicht dick befreundet, aber man hat sich begrüßt und ein paar nette Worte gewechselt.“ Doch nun herrscht eisiges Schweigen. „Es gibt kein Vertrauen mehr“, meint Djako Milić, „in allen albanischen Familien gibt es ja Männer, die bei der UÇK sind, einen mindestens muß jede Familie hergeben, und, wer weiß, vielleicht kriegen die Albaner ja mit der UÇK Ärger, wenn sie mit uns reden.“
Die Frontlinien wurden Anfang März begradigt. Die beiden Serben Miljan Milošević und Milos Brodanović und ein Albaner waren halb sechs Uhr morgens von einem UÇK-Kommando angehalten worden, als sie über Land fuhren. „Den Albaner ließen die Terroristen laufen“, erzählt Djako Milić „die beiden andern entführten sie nach Likovac“, einem Ort tief in der Drenica, dem von der Guerilla kontrollierten gebirgigen Hinterland. Doch offenbar hatten sie die falschen erwischt. Jedenfalls tauchte das Kommando abends um 18 Uhr in Bukos wieder auf, ließ die beiden Gekidnappten frei und forderte Miljan auf, seinen Bruder Mirko zu rufen.
Als der vor seiner Haustür erschien, wurde er gefragt, ob er eine Waffe habe, und gleich danach niedergeschossen. Sein Bruder starb kurz danach an den Verletzungen, die er sich bei der Schießerei vor dem Haus zugezogen hatte, im Krankenhaus. So jedenfalls die Version von Djako Milić, die auch Bora Savić, ein Rentner, bestätigt.
Er ist gekommen, um nachzuschauen, was für Leute sich bei seinem Nachbarn tummeln. Beide haben das Erzählte nicht selbst gesehen. Aber auch der Österreicher Heinz Nitsch, Sprecher der OSZE in der Industriestadt Kosovska Mitrovica, geht davon aus, daß sich der Mord ungefähr so zugetragen hat. Aber er sagt auch, daß viele Serben der Region bewaffnet sind.
In Kosovska Mitrovica werden gerade zwei andere Brüder beerdigt: Radivoje und Ljubisa Mitrović. Über tausend Serben sind gekommen, um ihnen das letzte Geleit zu geben. Nur wenige von ihnen haben die beiden gekannt, aber es sind nun mal „ihre“ Toten. Neben dem offenen Doppelgrab steht ein Holztischchen mit einer Flasche Sliwowitz und einem halben Dutzend Gläschen. Der Pope Svetislav Nojić, in purpur- und goldbesticktem schwarzen Gewand, beweihräuchert die Särge, dann hebt der orthodoxe Totengesang an, und schließlich richtet ein Verwandter das Wort an die Trauergemeinde: „Sie wurden niedergemetzelt von den bösen Händen albanischer Terroristen und Faschisten. Sie ließen ihr Leben bei der Verteidigung ihrer Häuser und der Leben anderer Serben in jenem Dorf. Dieses frische Blut soll uns eine Mahnung sein, daß wir unser Land, unsere Häuser und was von der serbischen Jugend im Kosovo noch geblieben ist, verteidigen müssen.“ Ein Gläschen Schnaps wird auf die Särge gegossen – zur Labung der Toten, dann erhalten der Pope und die übrige Trauergemeinde ihren Schluck. So will es die Sitte.
Die beiden Brüder Mitrović, geboren 1950 und 1957, wurden am Mittwoch vergangener Woche in Mihalić erschossen. „Sie sind bewaffnet in unser Gebiet eingedrungen“, sagt UÇK-Kommandant Rrahman Rama in seinem Hauptquartier im nahen Osljane, einem Dorf, das über verschlammte unbefestigte Straßen nur mit Jeep zu erreichen ist, „der eine war Polizist, der andere ein Ziviler, der sich paramilitärisch betätigt hat.“ Miljan Mitrović, Sohn von Radivoje, wurde bei der Gelegenheit festgenommen. „Die Ermittlungen in seinem Fall sind angelaufen“, erklärt Rama trocken. Doch sie sind nach einer Woche noch nicht abgeschlossen, und so konnte er an der Beerdigung seines Vaters nicht teilnehmen.
Zurück nach Bukos, wo Djako Milić in Angst lebt. Oberhalb seines Hauses ist nun ein Militärstützpunkt eingerichtet worden. Selbst eine Patrouille der OSZE wurde von den Soldaten der jugoslawischen Armee an der Weiterfahrt gehindert. Dahinter soll das UÇK- Gebiet beginnen, und dort, im obersten Teil des Dorfes, soll noch eine alte serbische Frau leben: Velika Vucetić. Niemand weiß, was mit ihr geschehen ist, und die Serben fürchten das Schlimmste.
Unterhalb von Milićs Gehöft, im Unterdorf, wohnen noch etwa 200 Albaner. Ismet Gashi, der örtliche Chef der LDK, der stärksten politischen Partei der Kosovo-Albaner, ist ihr Führer. Etwa 900 Albaner seien geflüchtet, sagt er, auch einige Serben, „zum Teil mit unseren Traktoren“. Über den Mord an den beiden Brüdern Milošević kann er nichts sagen – „wir konnten hier unten nichts sehen“ –, aber danach umstellten Polizei und Armee das Dorf. Seither weiß niemand, wie es dem alten Feridar Shartari ergeht. Die serbischen Streitkräfte lassen keinen durch.
Vier Brüder hat Ismet Gashi, er und drei von ihnen wurden 1989 aus dem öffentlichen Dienst entlassen, nachdem der damalige Präsident Serbiens, Slobodan Milošević die Autonomie des Kosovo aufgehoben hatte und die Provinz rigoros serbisiert wurde. Der fünfte hat 1991 das Studium abgebrochen. Er hat sich damals versteckt, um nicht für den Krieg gegen Kroatien rekrutiert zu werden.
Ismet hat in Vucitrn, einem Städtchen, das fünf Kilometer entfernt ist, ein kleines Geschäft. Er ist der einzige der Brüder, der Einkünfte hat und muß also alle mit ihren Familien, 25 Personen insgesamt, ernähren. Doch die Polizei kontrolliert die Straßen, und die Armee schießt seit Tagen Granaten übers Dorf hinweg. Seit einer Woche traut er sich nicht mehr zur Arbeit. „Wir warten hier auf bessere Zeiten“, sagt er, „und darauf, daß wir wieder Elektrizität haben.“ Vor zwei Tagen wurde dem Dorf der Strom abgestellt.
Auf dem Weg nach Vucitrn, dort wo Ismet Gashi sein Geschäft hat, kriecht ein Traktor die Straße entlang. 27 Personen, vor allem Frauen und Kinder, drängeln sich auf dem angehängten Brückenwagen. Sie sind vor einer Stunde aus dem nahen Nevoljane geflohen, als Polizei und Militär ins Dorf einrückten. Seit einer Woche würde das Dorf beschossen, berichtet Behran Mehmeti, der am Steuer sitzt. Die 27 Flüchtlinge werden bei einem Verwandten von ihm in Vucitrn unterkommen, in einem Haus mit drei Zimmern, in dem neun Flüchtlinge wohnen, die im Sommer geflohen waren, als die Polizei ihre Großoffensive gegen die UÇK-Guerilla startete. Er selbst gehe zurück ins Dorf, sagt Mehmeti, wo auch die meisten Männer geblieben seien. Er hat Angst, daß die Soldaten sonst sein Haus plündern und die Hühner töten.
Shaban Dushi hat sich zu Fuß auf den Weg nach Vucitrn gemacht. Er will dort die OSZE um Hilfe bitten. Er kommt gerade aus Bukos, sein Haus liegt abseits des Dorfkerns, nicht weit vom Gehöft des Djako Milić entfernt, 300 Meter unterhalb des Stützpunktes der Armee. „Ich konnte mich gerade noch retten“, berichtet der Rentner, der überhaupt keine Habe, nicht einmal eine Tasche bei sich hat. Als die Soldaten kamen, sei er weggerannt und habe noch gehört, wie sie seine Türe eintraten. Jetzt möchte er zurück, um zu sehen, was ihm gestohlen wurde, traut sich aber nicht. Das Angebot, ihn zurückzubegleiten, lehnt er ab. „Ihr Journalisten könnt für meine Sicherheit nicht sorgen, nein, nur mit der OSZE.“ Aber die Offerte, ihn zum Büro der Organisation zu fahren, nimmt er gerne an.
Dort protokolliert der Schwede Mikael Noren, von Beruf Polizist, den Fall. Der Flüchtling wird höflich behandelt, höflich werden die Fragen gestellt und höflich wird seine Bitte, mit der OSZE zusammen nach seinem Haus zu schauen, abgeschlagen. „Es ist uns nicht erlaubt, fremde Personen mitzunehmen“, sagt der Skandinavier. Schließlich willigt er in einen Kompromiß ein: Wir fahren Shaban Dushi in unserem Auto zurück, und der OSZE-Jeep folgt uns zur Sicherheit. „Morgen früh also“, verspricht Noren dem Flüchtling, „können wir sie telefonisch erreichen?“ Der Rentner hat kein Handy bei sich und weiß auch nicht, wo er schlafen wird. Schließlich willigt der OSZE-Mann ein, sofort zu fahren.
Von der Straße führt ein Feldweg zu Dushis Haus. 200 Meter vor dem Ziel fallen Schüsse. Vielleicht etwa 300 Meter entfernt, vermutlich schießen die Soldaten, die etwas weiter oben ihren Stützpunkt haben. Es sind einzelne Schüsse, nicht Gefechtslärm. Warnschüsse? Der Schwede mit dem gepanzerten Wagen weigert sich weiterzufahren. „Die OSZE hat Anweisung, keine Risiken einzugehen“, erklärt er, „es tut mir leid, wir können es ja vielleicht morgen noch einmal versuchen.“
Shaban Dushi rückt sich die Baskenmütze zu recht. Tränen steigen ihm in die Augen, Tränen der Wut oder der Enttäuschung. Wie angewurzelt bleibt er stehen und starrt zu seinem Häuschen hinüber. In zwei Minuten könnte er dort sein. Soll er oder soll er nicht? Schließlich sagt er: „Ich gehe hin.“ In dem Moment startet der OSZE-Mann seinen Jeep. Shaban Dushi kriegt Panik und bittet uns, sofort hinterherzufahren. Im Auto ist kein Wort mehr aus ihm herauszukriegen. Er ist völlig in sich zusammengesunken. Am Stadtrand von Vucitrn bittet er anzuhalten. Er steigt aus, und verschwindet unter den Leuten. Ein Flüchtling mehr.
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