: Schlag auf Schlag
40 Jahre Kinderrechte. Na und? Noch immer glauben Eltern, Kinder seien ihr Eigentum. Noch immer werden die rechtlichen Ansprüche der Kinder ignoriert ■ Von Gabi Trinkaus
Man kann Jugendgewalt präventiv oder repressiv bekämpfen. Skandinavien hat sich für die Prävention entschieden. Man hat nicht nur die elterliche Gewalt verboten, man hat auch Elternschulen gegründet. Sie sollen den Kreislauf der Gewalt unterbrechen. Eltern, die als Kinder geschlagen wurden, schlagen zu siebzig Prozent ihre Kinder. Dreiviertel der straffällig gewordenen Jugendlichen erlebten zu Hause Gewalt. Oft nur, weil die Eltern nie gelernt haben, Konflikte mit ihren Kindern anders als durch Prügel zu lösen. In den Elternschulen können sie lernen, daß Autorität gerecht eingesetzt werden muß und nicht nur zum Neinsagen da ist.
Bücher zu diesem Thema zeigen kleinere Kinder als Opfer, größere auch als Täter. Sie sind Mutmachbücher, denn Mut brauchen Kinder und Zuschauer.
Zu den bekanntesten Büchern zum Thema Kindesmißhandlung gehört: „Die Sache mit dem Heinrich“ von Mira Lobe (Jungbrunnen). Sie versucht mit dieser Geschichte die Frage zu klären, gehören Kinder ihren Eltern und „können die mit ihnen machen, was sie wollen?“ Das Buch ist so alt wie die Kinderrechte, die vor zehn Jahren von der UNO verabschiedet wurden. Heute wissen wir dank der Medienberichterstattung mehr von getöteten und mißhandelten Kindern. Aber ihnen zu helfen, das ist immer noch genauso schwierig.
Eltern! Wozu sollen die eigentlich gut sein?
„Gekidnappt!“ von Michael Harrison beginnt wie ein spannender Krimi. Martins Eltern haben sich scheiden lassen. Martin lebt bei seiner Mutter und versucht, sich neutral zu verhalten. Aus dieser beinahe normalen Situation wird er entführt. Ein Mann überwältigt ihn in seinem Haus, verschleppt ihn auf ein Boot und will seinen Vater um die Hälfte eines angeblichen Lottogewinns erleichtern. Auch das kommt vor. Aber dann sieht Martin, wie sich dieser Mann nachts am Ufer mit seiner Mutter trifft. Sie sind Freunde. Sein Entführer ist sein künftiger Stiefvater. Und sein Vater, warum verschwieg er den Lottogewinn?
Es gelingt Martin, vom Boot zu fliehen. Am Ufer wartet Hannah, die kluge Tochter seines Entführers. Sein Mißtrauen ist groß, doch sie hilft ihm. Obwohl sie weiß, daß ihr Vater, wenn er wütend ist, gewalttätig wird. Abwechselnd berichten beide Kinder von der verzweifelten Suche nach Martins Vater, während ihnen die Entführer immer dicht auf den Fersen sind. Schließlich gerät die Situation außer Kontrolle, sie überleben nur knapp.
Eltern! Zu was die gut sein sollen? möchte Hannah gern wissen und spricht damit nur aus, was viele Kinder schon immer wissen wollten und sich nicht zu fragen trauten. Selten wird in einem Kinderbuch die Elternrolle so klar in Frage gestellt.
Michael Harrison: „Gekidnappt“, dtv junior pocket, ab 12 Jahre, 12,90 DM.
Schwieriges Kind, netter Vater?
Der dänische Jugendsender P4 bietet seit 25 Jahren eine Hörersprechstunde für Jugendliche an. Das Buch „Lieber Vater! Böser Vater!“ verdankt sein Entstehen dieser Sprechstunde.
Eines Tages rief Nana an. Für sie hat die Sendung eine lebenswichtige Funktion. Mit Hilfe der Moderatorin gelingt es ihr in einem langen Prozeß, sich ihrem prügelnden, vergewaltigenden Vater zu entziehen. In Briefen und Anrufen erzählt sie ihre Kindheit. Auf der einen Seite die psychisch kranke Mutter, auf der anderen ein Vater, der es versteht, seine Brutalität mit Charme zu verdecken. Im Kindergarten weigert sie sich, ihre Hose auszuziehen, damit niemand die Striemen sieht. Sie hält alle auf Distanz. Ihre Antworten sind stets ausweichend. Ab und zu hat sie Anfälle von Aggressivität, sie wird drogensüchtig.
Mit zwanzig Jahren ist die Jugendsprechstunde ihr erster Versuch, sich Hilfe zu holen. Ihr Befreiungsprozeß wurde im Radio dokumentiert und als Buch veröffentlicht.
Der eindringlich geschilderte Leidensweg erregte viele Menschen. Er hatte aber vor allem zwei wichtige Konsequenzen: Der Vater hat aufgegeben, und viele Betroffene schöpften Mut, den Schritt an die Öffentlichkeit zu wagen.
Tine Bryld: „Lieber Vater! Böser Vater!“ Loewe, ab 16 J., 24,80 DM.
Judith weiß, daß sie sich selbst retten muß
Mißhandelte Kinder verstecken sich. Judith, eine schlechte Schülerin, versucht alle Kontakte zu vermeiden. Sie spricht wenig und ist für die Klasse so gut wie unsicht- bar. Bis eines Tages Michiel in die Schule kommt. Vielleicht ist es so, daß Kinder in Not sich erkennen. Mit seiner Rechtschreib- und Leseschwäche war er für seinen wissenschaftlichen Vater nicht akzeptabel. Doch seine Tante erkannte die Situation und verhinderte beherzt Schlimmeres. So viel Glück hat Judith nicht. Doch letztlich rettet sich Judith selbst. Als die Mutter mit dem Messer auf ihren Teddy losgeht, weiß Judith, daß sie sich retten muß. Aber sie kann es nur, weil sie auch weiß, daß es Michiel und seine Familie gibt, die sie auffangen werden.
Dieses Buch zeigt die typischen Verhaltensweisen gequälter Kinder und die Taktiken, mit denen Eltern versuchen, die Situation zu verbergen. Für Betroffene gibt es im Anhang die Telefonnummer des Kinderschutzbundes.
Anke De Vries: „Eine Brücke für Judith“, Rotfuchs rororo, ab 11 Jahre, 10,90 DM.
Hannes will stolz auf Hannes sein
Hannes hat schon einige Abschiede hinter sich. Von seiner alkoholabhängigen Mutter und dem prügelnden Stiefvater ging er freiwillig ins Heim. Gewalttätigkeit vertrieb ihn auch dort. Nun ist er in Dortmund gelandet, hat nichts außer Hunger. Beim Griff in eine fremde Manteltasche wird er erwischt. Doch ein Typ rettet ihn, nimmt ihn mit nach Hause. Auch das hat seinen Preis. Er sieht aus wie ein Professor, ist gelernter Taschendieb und bietet Hannes eine Lehrstelle samt einem Zuhause an. Mit dessen labiler Tochter erlebt Hannes eine Familienatmosphäre, von der er bisher nur träumen konnte. Ein Zuhause und keinen Hunger zu haben – das ist viel, wenn man nichts hat. Außerdem verliebt er sich in das Traummädchen Silvi, klaut wieder, kommt wieder ins Heim. Aber das bringt ihn nicht mehr um. Hannes weiß jetzt, was er will. Er will ein Hannes werden, auf den er stolz sein kann.
Ralf Thenior: „Greifer“, Ravensburger, ab 14 Jahre, 22 DM.
Der Vater – ein Held oder ein Gangster?
Lorcan bewundert seinen Vater, einen IRA-Mann. In Irland kennt ihn jedes Kind. Seine Mutter ist davon nicht begeistert, schließlich ist ihr Mann selten zu Hause. Sie versucht, ihren kriegsspielenden Sohn zu beeinflussen. Sie erreicht damit aber nur, daß er mit seinem Freund Stevey ausreitet, um der IRA als Kindersoldat zu dienen. Beide hoffen, den vermißten Elternteil – einmal Mutter, einmal Vater – wiederzufinden. Aus Hunger überfallen sie einen kleinen Lebensmittelladen und tun so, als hätte die IRA sie geschickt. Jetzt erleben sie zum ersten Mal, daß die Leute Angst vor der IRA haben. Die resolute Bridgit nimmt sie mit zu sich nach Hause. Dort treffen sie auf ein weiteres verlassenes Kind, Maggy. Die Gewalt des Krieges hat überall seine Spuren hinterlassen. Bridgit ist eine kluge Frau, die weiß, daß es keinen Sinn hat, ihnen die Kriegsbegeisterung auszureden. Sie beschäftigt sie mit angeblicher Kriegsausbildung. Doch aus dem Fake wird unversehens Ernst. Der Krieg holt sie ein, die Fronten verwischen. Der große IRA-Kämpfer wird zur tödlichen Gefahr für Bridgit und Maggy. Und Lorcan weiß plötzlich nicht mehr, ist sein Vater ein Held oder ein Gangster? Ist für Irland wirklich jedes Mittel recht?
Frederic Hetmann: „Kinder der grünen Insel“, Unionsverlag Sansibar, ab 12 Jahre, 14,90 DM.
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