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Schwere Übung Schreien

■ Gehörlose Frauen kamen zum ersten bundesweiten Selbstverteidigungstraining nach Altenbücken / Einhellige Meinung: „Davon gibt es noch viel zu wenig“

chreit so laut, daß sich die Kühe erschrecken.“ Zwölf Frauen holen tief Luft – und schreien. Malousch Köhler schaut zufrieden.

Wer der Selbstverteidigungstrainerin zuhört, während sie auf der Wiese vorm Frauenbildungshaus Altenbücken ihre Trainingsanweisungen gibt, findet auf den ersten Blick dabei nichts besonderes. So laufen Selbstverteidigungswochenenden eben ab: Locker gekleidet, im Trainigsanzug, wird gruppenweise geschrien, getreten, geschlagen und meditiert. Allerdings, selten wird dabei so wenig gesprochen – und dann auch noch in Sätzen, die fast ohne Hilfsverben auskommen.

„Gucken, erst gucken. Dann schlagen. Sonst Verletzung“, warnt die 41jährige Trainerin die zwölf Frauen, die im Kreis um sie herumstehen und konzentriert auf sie schauen – auf die Lippen, die Hände und die Arme ihrer Trainerin. Manousch Köhler spricht in Gebärdensprache. Legt die Hände wie zum Gebet zusammen und sagt: „Bitte, bitte, bitte, keine Verletzung.“

Die Gruppe, die sich am vergangenen Wochenende im Frauenbildungshaus traf, war die erste ihrer Art in Deutschland – überregional ausgeschrieben und in einem Frauenferienhaus. Aus dem gesamten Bundesgebiet waren schwerhörige und gehörlose Frauen angereist. „Es gibt nur ganz wenige Kurse in ein paar deutschen Großstädten, wo gehörlose Frauen regelmäßig trainieren können“, sagt Trainerin Malousch Köhler, die gewöhnlich in Holland lebt und dort auch unterrichtet.

Auf die Idee zu ihrem Beruf kam die Sportlerin in den USA, „wo die Entwicklung schon viel weiter ist“. Jetzt gehört sie selbst zu den Frauen, die die Entwicklung vorantreiben: „In Holland habe ich gerade angefangen, blinde, gehörlose Frauen zu unterrichten.“ Und auch in Deutschland steige die Nachfrage nach der Selbstverteidigung für Gehörlose beständig. „Ich bin ausgebucht“, sagt Malousch Köhler zufrieden. Mittlerweile ist sie in die Ausbildung von Trainerinnen eingestiegen. Auch zwei Bremerinnen, die jetzt in der Hansestadt Kurse geben, hat sie ausgebildet.

Drei Kriterien sind ihr dabei besonders wichtig: Das Selbstbewußtsein muß stabilisiert werden. Die Schlagkraft – oder besser, der Mut, sich zu wehren – muß wachsen. „Viele gehörlose Frauen werden sehr behütet. Für die ist das oft sehr schwer.“ Aber vor allem müsse eine erfolgreiche Trainerin wissen: „Nichts geht ohne Gebärdensprache.“

Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, sagt die Trainerin nicht ohne Grund. Ihre Erfahrung ist, „daß Lippenlesen oft sogar in den Schulen viel zu hoch bewertet wird.“ Das Problem: „Die meisten Gehörlosen verstehen dann nur höchstens ein Drittel von dem, was gesprochen wird.“ Wie man sich dabei fühlt, berichtet Barbara Mekhnecke, die für den Kurs in Altenbücken extra angereist ist. Als Jugendliche hat sie drei Jahre lang unter Hörenden trainiert. „Dabei gab es immer wieder Mißverständnisse und Frust“, übersetzt eine Dolmetscherin die Gebärden der 35jährigen in gesprochene Worte. Eine herbe Erfahrung sei vor allem, daß viele hörende Menschen im Alltag aggressiv reagieren – wenn die Frau etwa an der Bushaltestelle keine Antwort auf Fragen gibt, die sie nie gehört hat. Lange konnte sie kaum reagieren, wenn plötzlich jemand böse vor ihr stand. In Altenbücken lernte sie Schreien. „Das fällt vielen Gehörlosen schwer.“ Und selbstbewußte Ausstrahlung. „Dann passiert meist weniger Schlimmes“, bestätigt die Trainerin.

Um „Schlimmes“ geht es oft, wenn Frauen Selbstverteidigung lernen. Ein Journalist fragt nach einem Beispiel. Die Gefragte verdreht die Augen und gestikuliert mit der Dolmetscherin. „Soll ich die vielen Erlebnisse wirklich alle erzählen?“, übersetzt die. Dann, nach einigem Schweigen, erzählt Barbara Mekhnecke doch. „Die meisten Frauen sind nachts auf der Straße sehr vorsichtig“, sagt sie. „Sie schauen und sie hören. Ich kann das nicht. Deshalb muß ich mich besser wehren können.“ ede

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