piwik no script img

Das Prinzip der Anekdötchen

■ Belletristik-Star John Irving las – ganz professionell – im Berliner Ensemble aus „Witwe für ein Jahr“ und war in erster Linie charmant

Warum wippt er dauernd mit dem Bein? John Irving fixiert Regisseur Holger Teschke fast ohne Regung, während dieser aus der deutschen Übersetzung von Irvings neuem Roman liest, „Witwe für ein Jahr“. Ab und zu nippt er an seinem Wasserglas, ißt einen Hustenbonbon. Den Blick nimmt er nie von Teschke.

Eigentlich sollte am Samstag abend im Berliner Ensemble Günter Grass die deutschen Passagen lesen. Der ist ein guter Freund von John Irving, hat ihm Zeichnungen geschenkt, mit denen der 57jährige Amerikaner nun sein Landhaus schmückt. Irving lobt Günter zuweilen in Interviews als großen Intellektuellen und dann die Deutschen, weil sie ihm zuhören, auch wenn er eine unbequeme Meinung habe. Doch Grass sagte ab, seine Frau ist krank geworden.

Die Annahme, er könne vielleicht selbst deutsch lesen, schloß er gleich rigoros aus. Er begrüßte das Publikum, entschuldigte sich für seine Bronchitis und schloß: „Vielen Dank, jetzt Sie haben mein Deutsch gehört.“ Irving brachte ganze Sätze zustande, radebrechte nicht, erfüllte aber auch nie die Erwartungen, die man an einen Autor stellen könnte, der im „Hotel New Hampshire“ oder der „Mittelgewichtsehe“ geradezu mit deutschsprachigen Einwürfen kokettiert. Teschke jedenfalls, auch mit Irving bekannt, war eine gute zweite Stimme, verhaspelte sich nur ein einziges Mal und sprach zurückhaltend szenisch, wie ein bescheidener Nachhall von Irving selbst.

Der war, sobald er nicht mehr Teschke betrachtete, sondern selbst las, in seinem Element: Klar und souverän trug er drei Passagen aus der „Witwe“ vor, allesamt vom Anfang des Romans. Nach vorne gebeugt, auf der Kante seines Stuhles sitzend, suchte er den Blickkontakt mit dem überwiegend jungen Publikum, sooft es ging, schien den Text beinahe auswendig zu können. Verschiedene Sprechstimmen, klares, deutliches Englisch – für die meisten Zuhörer hätte es wohl keiner Übersetzung bedurft. Wenn John Irving liest, läßt er die Melodie der Sprache durch seine Glieder fahren: Nacheinander spannte er die Oberschenkel an, hob ebenso die Schultern, wog am Satzende den Kopf.

Seit Monaten gibt Irving Lesungen der „Witwe für ein Jahr“, die seit März auf dem deutschen Markt ist. In die Spiegel-Bestseller-Liste stieg der 761seitige Roman gleich auf Platz drei ein. Eine Woche später war er an der Spitze, wo er sich bis heute hält. Zum ersten Mal schrieb Irving einen Roman konsequent aus weiblicher Sicht. Zum wiederholten Male sind fast alle Figuren Schriftsteller. Die Kritiker jammerten ein bißchen über all die Anekdoten und Nebenhandlungen, die die Sicht verstellen und den Umfang mehren, loben aber die charmante Professionalität, mit der der Belletristik-Superstar seine absurden Geschichten niederschreibt. Ähnlich professionell war die Lesung am Samstag abend.

Sie offenbarte aber auch das Manko des oft Interviewten: Die kleinen Einblicke in seine Schreibwerkstatt mußten auch dem flüchtigen Leser abgeschmackt vorkommen, denn fast wortgleich hatte sich Irving in Zeit-Magazin, Focus, Spiegel etc. darüber geäußert. Nur einmal verriet er zwischen Standard-Statements und Anekdoten Neuigkeiten: Während der Arbeit an der „Witwe“ habe er auch die Drehbuchfassung von „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ überarbeitet. Ein weiteres Mal, denn das Skript sei seit vierzehn Jahren in Arbeit. „Im Moment arbeit ich an zwei Romanen, an einem langen und an einem kurzen“, erzählte Irving dann. In einem davon gehe es um Schauspieler. In welchem der beiden Bücher, sagte er nicht. Auch nicht, welches zuerst fertig wird. Nur soviel: „Wird es zuerst das kleine, bin ich in zwei Jahren wieder in Berlin.“ Andernfalls würden es wohl fünf Jahre werden. Stefan Schmitt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen