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„Verzerrte Wahrnehmung“

■  Die Angebotstheorie beherrscht die Wissenschaft nicht so sehr, wie Medien und Sachverständige behaupten, urteilt der Neue unter den fünf Weisen, der Berliner Professor Jürgen Kromphardt

taz: Herr Kromphardt, Sie haben die jüngeren Gutachten der Wirtschaftsweisen öfters kritisiert. Jetzt sitzen Sie selbst im Sachverständigenrat. Was wollen Sie anders machen?

Jürgen Kromphardt: Meine Kritik besonders am letzten Gutachten richtete sich gegen seine Einseitigkeit. Im Mittelpunkt stand, wie die Angebotsbedingungen für die Unternehmen verbessert werden können. Die Nachfrageseite hat eine viel zu kleine Rolle gespielt.

Bis Lafontaine Finanzminister wurde, war Keynes ja verpönt.

Nicht in der Wirtschaftswissenschaft. In den USA dominieren inzwischen die neuen keynesianischen Ökonomen. Und wenn man eine Umfrage an deutschen Hochschulen machte, würden viele mehr nachfrageorientierte Argumente parat haben als angebotsökonomische. Die öffentliche Wahrnehmung ist da ein wenig verzerrt. Das mag daran liegen, daß im Sachverständigenrat und in anderen Institutionen seit Jahren fast ausschließlich Angebotstheoretiker sitzen.

Gibt es nach dem Rücktritt von Lafontaine einen Neuanfang in der Wirtschaftspolitik? Die sogenannten Modernisierer reden von einer „zweiten Chance“.

Bis jetzt sehe ich noch nicht klar, wieviel sich verändert hat. Hombach oder Clement haben ja auch früher ihre Meinung gesagt. Ich denke, es hängt viel davon ab, welches Konzept der neue Finanzminister durchsetzen will und kann.

Auch der Wirtschaftsminister dürfte künftig eine größere Rolle spielen. Immerhin hat er mit dem Subventionsabbau ein heißes Eisen angefaßt.

Aber er hat es geschickt gemacht: Zum einen, weil er damit ein bißchen Druck aus der Diskussion über die Erhöhung der Mehrwertsteuer genommen hat. Ich halte es für fatal, wenn man, sobald Finanzierungslücken zu erwarten sind, als erstes darüber nachdenkt, wie man Steuersätze erhöhen kann. Besser wäre es, die Bemessungsgrundlage bei der Einkommensteuer zu verbreitern – oder eben bei den Ausgaben zu sparen. Zum anderen war es sehr geschickt, die Wirtschaftsverbände einzubeziehen. Denn dadurch hat er die Beweislast verschoben. Schließlich haben die Verbände immer einen Subventionsabbau gefordert – im Prinzip. Aber wenn es konkret wurde, gab es immer eine Lobby, die dagegen war.

Was stünde auf Ihrer Subventionsabbau-Liste ganz oben?

Der Transrapid. Es ist vollkommener Unsinn, so einen Fremdkörper auf Kosten der Steuerzahlers neben ein bestehendes Bahnsystem zu setzen – unabhängig von der technologischen Qualität dieses Produkts, die etwas schwieriger zu beurteilen ist. Hier könnte der Bund schon mal mindestens die 6,2 Milliarden Mark, die er als Obergrenze vorgegeben hat, sparen. Hinzu kommen die laufenden Kosten, die die Bahn AG, also indirekt auch der Bund, tragen muß. Hier liegt das Risiko sogar jährlich im Milliardenbereich.

Das DIW fordert für den Anfang eine Gesamtersparnis von 20 Milliarden Mark.

Die größten Subventionsempfänger sind heute die Landwirtschaft und der Wohnungsbereich. Aber wie schwierig Subventionsabbau ist und und wie lange er dauert, haben wir gerade bei den Verhandlungen über die Agenda 2000 gesehen. Die Ausgaben bleiben jetzt über sechs Jahre auf dem gleichen Niveau. Das ist schon ein Fortschritt, aber es ist noch keine Einsparung. Immerhin gibt es aber einen positiven Struktureffekt: Indem Produktionsbeihilfen auf Einkommensbeihilfen umgestellt werden, kann ökologisches Landwirtschaften gefördert werden.

Beim Kohlebergbau ist der Abbau von Subventionen womöglich noch schwieriger.

Aber man muß ihn auf der Agenda lassen, auch wenn hier der politsche Widerstand sehr kräftig und gut organisiert ist. Die Fehler sind früher gemacht worden. Man hätte in Zeiten der Vollbeschäftigung, also bis 1973, sowohl den Kohlebergbau als auch die Landwirtschaft schneller schrumpfen lassen können, weil die Arbeitskräfte Alternativen hatten. Jetzt, wo die Arbeitslosigkeit viel höher ist, ist es um so schwieriger, die Zuschüsse zu reduzieren: Wenn man den Leuten sagen muß, die Alternative ist Arbeitslosigkeit, ist der Widerstand gegen Strukturwandel natürlich größer.

Der Deutsche Industrie- und Handelstag hat vorgeschlagen, generell alle Subventionen linear zu kürzen.

Wenn man in einzelnen Punkten nicht weiterkommt, kann man das so machen. Aber es heißt natürlich, man kann sich inhaltlich oder politisch nicht durchsetzen.

Welche Subventionen finden Sie weiterhin sinnvoll?

Man muß unterscheiden zwischen Erhaltungssubventionen, die etwas, was eigentlich verschwindet und für dessen Existenz es auch keine besonderen anderen Gründe gibt, erhalten. Da versteht es sich von selbst, daß die nicht besonders sinnvoll sind. Anders ist das, wenn man etwas Neues fördert, von dem man sich positive Effekte erhofft, wie etwa die Solarenergie.

Wie, glauben Sie, wird der Vorschlag der Wirtschaft aussehen?

Von der Wirtschaft wird kein ernsthafter Vorschlag kommen. Damit kann Wirtschaftsminister Müller sagen: Ja, Leute, dann muß ich also selber anfangen. Und dann könnt ihr mich nicht kritisieren, denn ihr habt das Angebot nicht genutzt, es besser zu machen.

Hätte Lafontaine beim Steuerentlastungsgesetz genauso vorgegehen sollen?

Nein, denn wenn man ernst genommen werden will, muß man den Verbänden natürlich Zeit lassen. Das wäre nicht gegangen bei dem Tempo, das für die Steuerreform vorgesehen war und das übrigens auch ganz richtig war, obwohl die Bundesregierung sich damit etwa bei den 620-Mark-Regelungen ziemlich verheddert hat. Der Subventionsabbau dagegen ist eher eine mittelfristige Angelegenheit, da kann man den Verbänden ein halbes Jahr Zeit geben.

Trotz der Bedenken wegen der Schnelligkeit finden Sie die Steuerreform nicht mißlungen?

Ich finde, sie geht in die richtige Richtung. Schon wegen der Grundidee, die Gruppen von Steuerzahlern zu entlasten, die mit dem zusätzlich zur Verfügung stehenden Geld Güter kaufen, seien es Konsumgüter oder Investitionsgüter: Also vor allem die Familien mit Kindern, weil die ihr Geld zum größten Teil ausgeben.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine stärkere Entlastung der Familien gefordert. Sollte man zur Finanzierung die Vermögensteuer wiedereinführen?

Grundsätzlich fände ich eine Vermögensteuer unschädlich. Vermögen werden selten dazu benutzt, Güter nachzufragen. Eine Umfinanzierung der Einkommensteuer zur Vermögensteuer wäre also für die Nachfrageentwicklung günstig, wenn es sich um Privatvermögen handelt. Und ein Teil unserer Arbeitslosigkeit wird ja durch zuwenig Nachfrage verursacht. Dasselbe gilt für Erbschaftsteuer auf große Erbschaften.

Und wie geht es weiter mit der Unternehmensteuerreform?

Man muß differenzieren. Beim Anteil der Unternehmensteuern am Gesamtaufkommen liegt Deutschland im OECD-Vergleich so niedrig, daß eine Nettoentlastung nicht zwingend ist. Wünschenswert ist aber ein transparenteres System, also niedrigere Steuersätze und dafür eine breitere Bemessungsgrundlage mit weniger Steuergestaltungsmöglichkeiten. Davon würden insbesondere kleine und neu gegründete Unternehmen profitieren, die ihre Gewinne investieren und damit Arbeitsplätze schaffen. Die großen Unternehmen, die ihre Gewinne steuermindernd irgendwo ins Ausland bringen oder Konkurrenten aufkaufen, können stärker belastet werden. Dagegen spricht nichts.

Außer ihrer Drohung, ins Ausland abzuwandern.

Diese Drohungen sollten Anlaß sein, verstärkt auf eine europaweite Harmonisierung hinzuarbeiten, damit der Anreiz nicht so groß ist, aus steuerlichen Gründen woandershin zu gehen.

Wie müßte diese Harmonisierung denn aussehen?

Wünschenswert wäre eine Angleichung bei den Steuersätzen, was für Deutschland tendenziell deren Senkung bedeutet, sowie bei der Bemessungsgrundlage, die bei uns dadurch verbreitert würde.

Und bis das passiert, muß man noch Angst haben, daß die Unternehmen ins Ausland gehen?

Man sollte solche Drohungen aus zwei Gründen nicht überbewerten. Zum einen: Wenn bisher Arbeitsplätze verlagert wurden, dann vor allem in Niedriglohnländer, nach Osteuropa oder früher nach Südostasien. Viele sind aber wieder zurückgekommen, weil sie hier, wenn sie eine bestimmte Qualität produzieren wollen, besser fahren. Zum zweiten: Wenn Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden, also etwa Teile von Maschinen in Tschechien gefertigt und dann in Deutschland in Maschinen eingebaut werden, dann verdienen die Tschechen damit Devisen, mit denen sie wiederum in Deutschland Maschinen kaufen können. Netto und gesamtwirtschaftlich ist der Arbeitsplatzverlust also keineswegs so groß. Interview: Beate Willms

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