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„Sie sind Jüdin? Ich könnte Sie umarmen!“

Jung, jüdisch und deutsch: Micha Brumlik spürt in seinem Buch dem Lebensgefühl der „dritten Generation“ nach. Wo ist ihr Ort, jenseits von Mahnmal und Museum? Über das Selbstverständnis junger Juden in Deutschland. Eine Buchbesprechung  ■ Von Shelly Kupferberg

Jüdisches Leben in Deutschland? Das sind vor allem Gedenktage, mahnende Zeigefinger und Klezmermusik. Abseits dieser stereotypen Medienrealität existiert auch ein deutsch-jüdischer Alltag in der Bundesrepublik. Aber wie gewöhnlich, wie „normal“ kann der sein? Eine Standardfrage. Stellt man sie jüdischen Bekannten, muß man sich nicht über skeptische Blicke wundern.

Micha Brumlik hat sie trotzdem gestellt und gleich mehr als einem Dutzend jüdischer Zwanzig- bis Mittdreißigjähriger. Die Antworten hat er in einem Reader zusammengefaßt. Nicht wenige der Befragten sind Schriftsteller und Journalisten. Das Spektrum der Beiträge reicht vom Besinnungsaufsatz bis zum ausgearbeiteten Essay. Einige gehen über Routineerklärungen hinaus. Sie zeugen von ausführlicher Selbstbefragung. Den Anstoß zu seiner Recherche gab Brumlik eine umstrittene Rede. Nicht Martin Walsers Friedenspreisrede, sondern ein Ereignis, daß die nichtjüdische Öffentlichkeit in Deutschland weit weniger bewegte als die jüdische: Die Rede, die Israels Präsident Ezer Weizman vor drei Jahren bei seinem Staatsbesuch im deutschen Bundestag hielt, und in der er die in Deutschland lebenden Juden ganz unverblümt aufforderte, nach Israel auszuwandern. Gerade Israelis zweifeln häufig an der Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland. Ihnen gegenüber fühlen sich in Deutschland lebende Juden besonders gern in die Rechtfertigungspflicht genommen.

Einige der von Brumlik Befragten gehen mit ihren Beiträgen direkt auf Ezer Weizmans Rede ein. Die meisten aber äußern sich, unabhängig davon, ganz allgemein zu ihrem Leben zwischen jüdischer Herkunft und deutscher Gesellschaft. Die Heidelberger Studentin Rosa Behr sieht es als Zwiespalt. Sie, die an der Universität im Nebenfach „Jüdische Studien“ belegt und religiös ist, versucht, in Deutschland „ein Stück Judentum“ zu leben. Innerhalb der jüdischen Gemeinde, soweit es dort angeboten wird. Denn außerhalb dieser Institution erweist sich das oft als schwierig: Jüdische Feiertage werden im öffentlichen Leben kaum wahrgenommen, eine konsequent koschere Ernährung ist fast unmöglich. So fühlt sie sich von der deutschen Wirklichkeit in ein unfreiwilliges Ghetto gedrängt.

Ähnliche Erfahrungen hat auch Marc Grünbaum gemacht. Doch der Jurist aus Frankfurt besteht darauf, daß er gern und bewußt in Deutschland lebt. Er betrachtet die Tendenz zur jüdischen Selbstbezogenheit nüchtern als zweiseitigen Prozeß: als Reaktion auf die unbewußte Ausgrenzung seitens einer Mehrheit, die in Juden etwas Besonders sieht. Und als mehr oder weniger bewußte Abgrenzung, die sich aus einer traditionellen jüdischen Erziehung an gemeindeeigenen Kindergärten und Grundschulen ergibt. Die Verbundenheit durch das gemeinsame Heranwachsen ist eine schöne Sache. Doch der 28jährige ärgert sich über den fehlenden Willen mancher Altersgenossen, sich mit der nichtjüdischen Welt auseinanderzusetzen. Was dort wiederum Berührungsängste oder Unkenntnis und damit diffusen Antisemitismus befördere. Oder auch einen ebenso diffusen Philosemitismus.

„Sie sind Jüdin? Ich könnte sie umarmen!“ – so karikiert Elizabeth Benizri aus Mainz eine typische Übersprungshandlung, in der sich das chronisch schlechte Gewissen mancher Deutscher entlädt. Als exotische Spezies mit attraktivem Opferstatus ziehen Juden in Deutschland besonderes Interesse auf sich, keine andere Minderheit dürfte so viele erklärte Freunde haben. Nur, daß man auch die sich eben nicht immer aussuchen kann: Besserwisser zum Beispiel, die frei aus der Thora zitieren können, oder Möchtegern-Opfer. „Oft habe ich das Gefühl, daß das Sammelsurium an seltsamen Menschen, die sich um jüdische Gemeinden in Deutschland scharen, immer größer wird“, schreibt Elizabeth Benizri. Und stellt fest: „Der allgemeine Trend zum Jüdischen ist da, jedoch ist das Wissen darüber, was das Jüdische ist, nicht vorhanden.“

Aber was ist es denn nun, „das Jüdische“? Zum Sabbat in die Synagoge gehen? Einen hübsch klingenden Namen tragen? Oder ein Opferstatus, der allerdings mit der Zeit immer abstrakter wird? Micha Brumliks Buch zeigt das breite Spektrum jüdischen Lebensgefühls von religiös bis säkular, von offenem bis offensivem „Jüdischsein“. Doch auch wenn jeder einzelne eine eigene Geschichte hat – gemeinsam ist allen die Erfahrung von Situationen der Selbstbehauptung in einer nichtjüdischen Gesellschaft, wie auch der Rechtfertigung gegenüber im Ausland lebenden Juden: warum um alles in der Welt ausgerechnet Deutschland? Beschreibungen von solchen Schlüsselsituationen durchziehen das Buch. Daß „das Jüdische“ immer auch Ergebnis einer ständigen Auseinandersetzung mit der Umwelt ist, das bringt die russische Vertriebsingenieurin Irina Zlotina mit einem schönen Paradox auf den Punkt: „Antisemitismus macht jüdischer“. Das Buch ist in erster Linie für den unbewanderten Leser gedacht, dem Kenner bietet es wenig Neues. Die Lektüre öffnet den Blick auf die Befindlichkeit einer Generation, deren Eltern und Großeltern die Shoah häufig nur mit Glück überlebten. Die einst in deutschen Übergangsgemeinden oft nur zufällig gelandet sind mit dem Ziel, ins Ausland zu emigrieren oder, aber aus dem Exil zurückgekehrt, lange auf den sprichwörtlichen „gepackten Koffern“ saßen. Innerlich immer auf dem Sprung, im Zweifelsfall doch noch mit Sack und Pack wegzugehen, nach außen hin argwöhnisch gegenüber jeder politischen Klimaveränderung.

Sicher ist nur: Die unter deutschen Juden einst sprichwörtlichen „gepackten Koffer“ scheinen bei den meisten ausgepackt zu sein. In Deutschland lebt es sich ganz angenehm. Die „dritte Generation“, die Enkel der Überlebenden der Shoah, sehen sich als Teil dieser Gesellschaft, vielleicht sogar als Wegbereiter eines neuen, pluralistischen jüdischen Lebens in Deutschland.

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