: Steine vom Balkon
Es gibt Geschichten, die nie ein gutes Ende zulassen. In diesem Fall muß man wenigstens dafür sorgen, daß sie zumindest ein baldiges Ende haben. Ein Gleichnis ■ Von Javier Marias
1) Eine Straße, ein Stadtviertel. Die Bewohner der hochgelegenen Stockwerke – einige sind sehr hoch, sie gehören zu Wolkenkratzern – sehen von ihren Fenstern, Balkonen und Terrassen aus, daß unten, auf der Straße, ein Individuum Anstalten macht, einem Kind die Kehle durchzuschneiden. Gleich sehen sie, daß diese Person nicht die einzige ist: Es gibt weitere Individuen, die sich anschicken, weitere Kinder zu erwürgen oder ihnen die Kehle durchzuschneiden, vielleicht ihren eigenen Kindern. Die Passanten beschleunigen fast alle die Schritte und wenden den Blick ab, einige feuern die Schlächter an und applaudieren ihnen, einer bietet sich sogar an, ein Kind festzuhalten, um dem Würger die Aufgabe zu erleichtern. Es ist nicht das erste Mal, daß solche Verbrechen in dieser Straße geschehen, nur daß vor einigen Jahren Frauen die Opfer waren. Vielleicht die Frauen der Mörder.
2) Die Bewohner der hochgelegenen Stockwerke haben im wesentlichen zwei Optionen (des weiteren drei oder vier): Die eine besteht darin, von den Fenstern und Terrassen zurückzutreten, sich umzudrehen, sich in ihre Wohnungen zu begeben und sich zu weigern, Zeugen des unmittelbar bevorstehenden oder schon begonnenen Massakers zu sein. Wenn jemand kein Zeuge ist, nichts sieht, nichts erfährt, nichts weiß, kann er nichts tun in bezug auf das, was ihm unbekannt ist, nicht einmal es später erzählen. Die andere Option besteht darin, den Versuch zu unternehmen, das Massaker zu verhindern. Die Bewohner wissen, daß Worte, Schreie oder Drohungen ihnen nichts nützen werden. Erstens, weil sie die Absichten – oder Versuchungen – der unten agierenden Individuen schon seit längerem kennen und ein ganzes Jahr damit verloren haben, sie durch Zureden davon abzubringen, ohne Erfolg. Zweitens, weil es heute nicht mehr um Absichten, Versuchungen, Befürchtungen, Vorzeichen geht. Heute wurde mit den Exekutionen begonnen, sie finden bereits statt, es gibt keine Zeit zu verlieren, die Stunde des Dialogs ist vorbei, die Kinder sterben bereits.
3) Die Bewohner der Höhe sind jedoch feige und übervorsichtig. Sie ziehen es nicht in Betracht – nicht jetzt, da es darauf ankommt –, die Treppen hinunterzueilen und den Mördern entgegenzutreten, ihnen in den Arm zu fallen. Sie fürchten, sie selbst könnten es dann sein, die von den Messerstichen getroffen werden; es kommt also nicht in Frage, hinunter zu gehen, der Kampf Mann gegen Mann, um die Kinder zu retten, wird ausgeschlossen. Es gibt jedoch noch einen anderen Grund: Die Wolkenkratzer sind so hoch, daß sie zu lange brauchen würden, um auf die Straße zu gelangen. Möglicherweise lägen alle Kinder schon erwürgt oder mit durchgeschnittener Kehle am Boden, wenn sie ihren Fuß auf den Bürgersteig setzen würden.
4) Daher beschließen die reichsten Bewohner der Höhe – aus Feigheit und auch der Dringlichkeit des Falles wegen und weil sie weder imstande sind, untätig zuzusehen, noch die Fenster zu schließen und sich in ihre Wohnung zurückzuziehen –, riesige Steine auf die unten agierenden Mörder zu werfen. Sie wollen nur sie und ihre Messer treffen, um sie zu entwaffnen. Aber nicht immer zielen sie richtig, einige große Steine fallen auf die Passanten, die sich nicht am Massaker beteiligen, obwohl einige es beklatschen und keiner es verhindert.
5) Eine Fraktion der hohen Bewohner, die das Abschlachten der Kinder nicht besonders bekümmert zu haben schien (man war nicht entsetzt gewesen, hatte nicht dagegen protestiert), meldet sich jetzt lautstark zu Wort; man ist entsetzt und protestiert heftig gegen das, was die aktiveren Mitbewohner tun. Und man sagt in forderndem Ton: Hört auf, mit Steinen zu werfen. Seht ihr denn nicht, daß ihr Passanten tötet? Außerdem rechnen die Individuen da unten mit ihren eigenen Kindern ab, und in Familienstreitigkeiten darf man sich nicht einmischen, jede Familie regelt auf ihre Weise ihre Konflikte, die niemanden sonst etwas angehen. Und wer weiß, was die Kinder getan haben. Außerdem, fügt ein Bewohner namens Julio hinzu, seid ihr sicher, daß sie ihnen die Kehle durchschneiden? Von hier aus kann man das nicht deutlich sehen. Man sollte abwarten, bis man über Teleskope verfügt. Vielleicht tun die Kinder ja nur so, und alles ist Erfindung. Oder womöglich wollen sie sterben und begehen Selbstmord mit Hilfe der Erwachsenen.
6) Andere Bewohner kümmern sich allmählich mehr darum, etwas für ihr Gemüt zu tun und die Bewunderung der Ihren zu wekken, als um das, was unten geschieht. In Wirklichkeit beschäftigen sie sich nur mit ihren hohen Stockwerken, schließlich und endlich findet dort ihr Leben statt, haben sie dort Zuschauer und Kunden, denen da unten ist es egal, was die einen oder die anderen in der Höhe sagen, sie hören nicht zu. Einer mit ausgefeilter Prosa namens Manuel gerät in Zorn über diejenigen, die Steine werfen: Die Mörder sind Mörder, räumt er widerwillig ein, aber ihr, die ihr zur Gewalt gegriffen habt, seid es sehr viel mehr. Und außerdem – befindet er –, jedes Opfer ist unschuldig, und diejenigen, die leiden, haben immer recht. Beide Argumente sind falsch – litt Rudolf Heß nicht, war er nicht letztendlich Opfer?, litt Mussolini nicht, als man ihn wie ein Tier aufhängte? – und sind in dieser Situation so nützlich, als würde man „Guten Abend“ sagen oder „Gott ist in einer Paella“. Trotzdem geraten viele Bewohner vor Begeisterung ins Schwärmen. Oh, wie schön, das erinnert an diesen großen lateinischen Dichter Pontius. Diese ganze Fraktion wirkt sehr sauber in ihrer Verurteilung der Steinewerfer und ihren Versuchen, ihnen Einhalt zu gebieten, aber sie sagt nie, was getan werden müßte. Sie schmückt sich nur mit viel Gezeter – Gewalt, wie schrecklich! Die Gewalt, die unten stattfindet, erscheint ihnen, vielleicht in Ermangelung von Teleskopen, nicht so schlimm, womöglich würden sie zulassen, daß sie fortdauert, sie befleckt nicht.
7) Was geschieht unterdessen dort unten? Als die Mörder die Steine auf sich herabregnen sehen, entschließen sie sich zur Eile. Das Massaker geht schneller voran, sie wollen die Sache rasch hinter sich bringen, nicht daß irgendein Geschoß sie trifft und ihre Arbeit unvollendet bleibt. Die Steinewerfer erreichen also nicht viel, sie retten keine Leben und löschen andere aus, und ihre größten Kritiker nutzen die Gelegenheit, um ihnen mit noch mehr Nachdruck Vorhaltungen zu machen: Seht ihr, was passiert? Die Kinder sterben schneller als vorher, und ihr bringt die Schlächter noch mehr in Rage, ihr erreicht nur, daß sie um so mordgieriger werden. Das ist wahr, aber wenn man ihnen freie Hand läßt, wird dann das Ergebnis nicht das gleiche sein, nur daß sie mit größerer Ruhe morden, wie am Anfang, ohne daß jemand sie stört? Wenn jemand entschlossen ist zu töten, dann tut er es, und nichts kann ihn daran hindern. Es sei denn, man falle ihm in den Arm mit dem gezückten Messer. Aber noch ist niemand auf die Straße hinuntergegangen. Die aktivsten Bewohner der Höhe sind ungeschickt, sind furchtsam, ihre ursprüngliche gute Absicht hat ihnen wenig genützt.
8) Ihre kritischsten Mitbewohner erkennen nicht einmal ihre guten Absichten an. Sie fordern sie auf, mit ihrer Aggression aufzuhören, einige greifen zu hinterhältigen Argumenten: Wenn ihr die anderen, die kurdischen oder ruandischen oder guatemaltekischen Kinder nicht verteidigt habt, die ein paar Stadtviertel weiter entfernt ermordet wurden, wieso verteidigt ihr dann jetzt diese hier? Diese Überlegung der Kritiker ist außerdem frivol: Wenn ihr einmal und zweimal oder dreimal versagt habt, dann müßt ihr auch jetzt versagen. Oder, was das gleiche ist: Wir wollen nicht, daß ihr euch ändert, wir wollen nicht, daß ihr euch bessert; da ihr den Tod jener Kinder nicht verhindert habt, müssen auch diese sterben. Und sie sagen nicht laut, was sie denken: So hätten wir euch das nächste Mal auch der Passivität angesichts der Ermordung dieser Kinder anklagen können.
9) Die gleiche Argumentation machen sich die Verteidiger eines alten transatlantischen Verbrechers zu eigen, der in die oberen Stockwerke gestiegen war und dort festgenommen wurde, Augusto mit Namen: Wenn ihr weder diese anderen Verbrecher namens Fidel und Alfredo noch seinerzeit Reza oder Pol oder Saddam oder Hassan festgenommen habt, wieso rückt ihr dann jetzt dem armen Augusto zu Leibe, der nicht so schlecht ist wie einige von denen? Statt zu begrüßen, daß endlich einmal versucht wird, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, wollen sie, daß weiterhin Ungerechtigkeit herrscht, daß die vorherigen Ungerechtigkeiten zu einer ungerechten Gegenwart, einer ungerechten Zukunft zwingen. Wenn ihr zuvor ungerecht oder nachsichtig wart, müßt ihr es auch jetzt sein, das ist letztendlich die Botschaft. Besserung und Berichtigung sind nicht erwünscht. Am erstaunlichsten ist, daß sowohl die Verteidiger des Verbrechers Augusto als auch die der Mörder der Straße sich als Bannerträger des Fortschritts gebärden, wo es doch wenige Haltungen gibt, die rückschrittlicher sind als der Ruf nach Verewigung des Irrtums.
10) Währenddessen sind auf der Straße fast nur noch tote Kinder zu sehen. Da die Mörder es leid sind, sich zu beschmutzen, haben sie beschlossen, die übrigen zu deportieren und ihre Schulen, ihre Spielplätze, ihre Kindergärten zu zerstören, sie wollen hier niemals mehr Kinder sehen. Die Bewohner der Höhe bewerfen sie noch immer mit Steinen. Wenn das, was man verhindern wollte, geschehen ist, warum?, wozu?
11) Die Wortgewaltigen und die Wortefeiler fackeln nicht lange und klagen an: Weil ihr hochmütig und präpotent und blutrünstig seid (obwohl die Steinewerfer weiterhin nach Kräften vermeiden, Passanten zu töten; diese würden wie Fliegen sterben, wenn es nicht wirklich so wäre); weil ihr die Niederlage nicht eingesteht, eure Ohnmacht euch blind macht.
12) Es mag sein, daß es diesen Anschein hat, antworten einige Steinewerfer; es mag sein, daß es so ist. Aber das wären nicht die einzigen Gründe. Das Massaker ist geschehen, das stimmt, wir haben es aus der Höhe nicht verhindert. Vielleicht gibt es fast niemanden mehr, den wir vor dem Tod retten können, und unser Bemühen muß jetzt darauf gerichtet sein, die Überlebenden zu heilen. Aber wenn wir jetzt aufhören, dann hieße dies, so zu tun, als sei auf der Straße nichts geschehen. Angesichts einer vollendeten Tatsache kann man nichts mehr tun, sie läßt sich nicht mehr ungeschehen machen. Hingegen kann sie sehr wohl Folgen haben oder nicht. Sie kann straflos bleiben oder bestraft werden. Die Tatsache, die stattgefunden hat, muß bestraft werden, das glauben wir. Nicht nur um der Gerechtigkeit willen, sondern damit sie sich nicht wiederholt. Dieselben werden sie nicht wiederholen, wenn sie im Gefängnis, abgesetzt oder tot sind. Und andere, die ihnen ähnlich sind, werden es sich zwei- oder dreimal überlegen, bevor sie mit eigenen Schlächtereien beginnen. Zum Beispiel diese Schläger in dem nahen Stadtviertel, wenn sie an die Macht gelangen. Wenn sie diese im Schatten nicht schon längst besitzen.
13) Es gibt Geschichten, die nie ein gutes Ende zulassen. In diesen Fällen muß man dafür sorgen, daß sie zumindest ein Ende haben. Ein unaufrichtiger Pakt oder ein schlechtes Argument sind es nie. Sie sind die Garantie für ihre Fortsetzung. Übersetzung: Elke Wehr
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