: Die Wippe im Beziehungsalltag
Minimalismus und Bewegung um der Bewegung willen sind ihre Sache nicht: Canan Erek, Berlins einzige türkische Choreographin, sucht in ihrem Tanztheater nach verständlichen Bildern. Ein Porträt ■ von Katrin Bettina Müller
Der Mann spielt den Wächter. Er (Firat Kilic) paßt an der Grenze zwischen Licht und Schatten auf, daß sie (Katrin Pohlmann) den hell ausgeleuchteten Teil der Bühne nicht verlassen kann. Jedesmal, wenn sie mit Kraft den Absprung wagt, landet sie noch im Flug auf seiner Schulter und wird sanft zur Erde zurückgebracht.
In dieser Szene von „See-Saw“, einem Beziehungsstück der türkischen Choreographin Canan Erek, ist die patriarchale Rollenverteilung am gegenwärtigsten. Der Mann, der Angst vor dem Verlust der Kontrolle hat, bestimmt den Spielraum des Paares. Doch die Positionen der Stärke und Schwäche wechseln in „See-Saw“ (dt: Wippe): Tradierte Verhaltensnormen reiben sich am Anspruch individueller Selbstverwirklichung. Daß die aber ohne den Rückhalt des anderen oft gar nicht durchzusetzen ist, betont Canan Erek.
Kein Wächter stoppte sie an der Grenze, als Canan Erek 1987 mit einundzwanzig Jahren von Istanbul nach Essen aufbrach, um an der Folkwangschule modernes Tanztheater zu studieren. In Ankara hatte Canan Erek klassisches Ballett gelernt, in Istanbul mit einer Tänzerin aus London die Gründung einer eigenen Compagnie versucht.
Aber jenseits des Balletts bestand dort für Tanz vor zwölf Jahren kaum eine Chance. „Mir war klar, Weiterbildung war nur im Ausland möglich. Dabei wird in der Türkei viel und gern getanzt, im Alltag, bei Festen, auf dem Land, und die jungen Leute tanzen genau wie hier Techno in der Disko“, erzählt Canan Erek. Als dramatische Form aber habe der moderne Tanz keine Basis in der Türkei.
Das ist hier, in der „Tanzstadt“ Berlin, gerade mal ein wenig besser. Denn auch hier kämpft ihre Liebe zum Theater mit diesem Problem: „Tanz scheint oft so weit weg, eine Form von Elite-Kunst, nicht nur für das türkische, auch für das Berliner Publikum.“ Ihre Angst ist, daß ähnlich wie bei der Neuen Musik, Spezialisten unter sich bleiben. Deshalb sucht sie nach erzählerischen Bildern, die jedem ermöglichen, mit eigenen Erinnerungen und Phantasien einzusteigen.
„Minimalismus, Bewegung um der Bewegung willen, das entspricht meiner Seele nicht“, sagt die Choreographin, die ihre Solostücke bisher vor allem im Ballhaus Naunynstraße herausbrachte. Die assoziativen Bilder, die sie aus dem Spiel mit Rollenmustern entwickelt, geraten in „See-Saw“ allerdings manchmal nahe an vielbenutzte Bewegungsgleichnisse. Doch dazwischen entspinnt der Tanz eine Leichtigkeit, die dem Auf und Ab im Alltag des Paares mit Vergnügen folgen läßt bis hin zur Karikatur der Zweierbeziehung, die nach außen Harmonie mimt und innen von kleinen Gemeinheiten vibriert.
Daß bei Tanz und Türkei viele nur an Kreuzberger Bauchtanz denken, liegt nicht zuletzt an der traditionellen Ausrichtung türkischer Kulturprogramme, die oft fehlende Heimat kompensieren sollen. Dem türkischen Theater in Berlin haftet das Image sozial engagierter Projekte an, die Theater zur Bewältigung der kulturellen Brüche zwischen der Herkunft und der Gegenwart vor Ort brauchen.
Canan Erek dagegen sieht ihre Arbeit nicht auf die Selbstverständigung in der türkischen Community bezogen, sondern im Geflecht des internationalen Tanztheaters. Dennoch hat sie sich gefreut, daß Akrep, eine neugegründete türkische Kulturzeitung in Deutschland, ihr seine Titelgeschichte der ersten Nummer im April widmete.
In etwas seltsamer Erinnerung hat sie ihre Ankunft in Berlin, als sie 1992 ihre choreographische Ausbildung an der Ernst-Busch-Schule fortsetzte. „Da war ich in meinem Jahrgang die einzige ,Wessi' beziehungsweise ,Ausländerin'; die anderen kannten sich alle.“ Ohne Spitzenschuhe zu tanzen galt da für manche schon als modern. „Die waren eben selbst noch auf der Suche“, entschuldigt sie dies etwas anachronistische Bild.
Ganz verlassen hat auch Canan Erek ihre klassische Basis nicht, sichert sie ihr doch den Lebensunterhalt. „Von Klassen für modernen Tanz kann man kaum leben.“ 16 Stunden in der Woche unterrichtet sie kleine Eiskunstläuferinnen in Ballett und Verständnis für den eigenen Körper.
„See-Saw“, im Ballhaus Naunynstraße, Naunynstr. 27, Kreuzberg, bis 16. Mai, 21 Uhr
„Tanz ist oft eine Form von Elite-Kunst nicht nur für das türkische, sondern auch für das Berliner Publikum“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen