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Die Völker sind wie fleischfressende Pflanzen

Das Unglück Europas ist die Wiedergeburt der völkischen Idee nach dem Zusammenbruch der alten Weltordnung. Im Kosovo sollten so schnell wie möglich Bodentruppen eingesetzt werden, damit der Schrecken dieser Ideologie bald ein Ende hat  ■   Von Fernando Savater

Ich war nie im Kosovo, und alles, was ich von dieser Gegend weiß, habe ich aus Artikeln und Büchern. Ich weiß aber vom Beispiel des Baskenlandes, was für hanebüchenen Unsinn manche Leute verbreiten, die den Konflikt nur vom Hörensagen kennen. Das verbietet es mir, mich allzu kategorisch darüber zu äußern, ob die bewaffnete Antwort der Nato auf die Aggressionen Miloevics angebracht ist. Natürlich bin ich weder der Auffassung, daß jegliche bewaffnete Reaktion auf einen bewaffneten Aggressor per se schlecht ist, noch denke ich, daß es immer die Armeen sind, die für die Kriege verantwortlich sind.

Ich suche nach politischen Reflexionen auf diese Fragestellungen, nicht nach pseudoreligiösen Stoßgebeten oder ethischen Postulaten. Zudem beeindruckt mich, daß die Mehrheit derjenigen, deren Kriterien ich respektiere und die die Situation in Jugoslawien aus eigener Anschauung kennen, eine Intervention gegen Miloevic befürworten. Schon im Falle Bosniens habe ich einige kennengelernt, die als entschiedene Pazifisten dorthin gingen, um zu helfen, und alsbald eine angemessene militärische Härte befürworteten. Diejenigen hingegen, für die Miloevic und die Nato gleichermaßen kriminell sind, scheinen ihre eigenen vier Wände kaum verlassen zu haben ...

Und trotzdem: Auch wenn ich nicht wage, die Bestrafungsintervention gegen den serbischen Linksdiktator kategorisch abzulehnen, bleiben mir doch eine ganze Reihe von Zweifeln. Die erste betrifft die Frage, ob die gewählten kriegerischen Mittel tatsächlich auch effektiv sind. Ein konventioneller Krieg funktioniert immer dann, wenn auch die Ziele klar militärisch sind. Aber um politisch etwas filigranere Ziele zu erreichen, etwa die Einführung einer funktionierenden Demokratie oder das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien, ist die konventionelle Kriegsführung ein viel zu grobschlächtiges Mittel. Sie kann, im Gegenteil, sogar eine kontraproduktive Wirkung haben, indem sie genau jene zivilgesellschaftlichen Beteiligungsprozesse blockiert, die für die oben genannten Ziele notwendig sind. Natürlich fliehen die vertriebenen Kosovo-Albaner vor Miloevic und nicht vor den Bombardierungen der Nato, aber vielleicht hat die von den Bomben hervorgerufene Verwirrung den Völkermord des serbischen Heeres erleichtert.

Wenn schon eine Militärintervention, dann müßte sie so schnell wie möglich so dicht wie möglich an den Boden ran und lokale Widerstandsbewegungen energisch unterstützen. Der Krieg erlegt allen Beteiligten eine brutale Logik auf, innerhalb derer sich ein Brutalo wie Miloevic vermutlich immer wie ein Fisch im Wasser bewegen wird – mindestens um ein Niveau der Zerstörung zu erreichen, bei dem auch seine Komplizen mit vernichtet werden, genau wie jene, die ihn eventuell ersetzen könnten.

Mein zweiter Einwand bezieht sich auf die demokratische Legitimation der bewaffneten Intervention. Die derzeitige, die kein Plazet der Vereinten Nationen erhalten hat, scheint mehr ein Dschihad zu sein, ein heiliger Krieg westlichen Zuschnitts gegen einen bestimmten Menschenrechtsverletzer. Als ob es davon auf dieser Welt nicht sehr viele gäbe – manche davon toleriert, andere sogar hoch gepriesen von den gleichen Leuten, die jetzt diesen Kreuzzug gegen Miloevic führen. Ich gestehe zu, daß es gerechtfertigte Kriege geben kann, aber keine heiligen und erst recht keine humanitären. Ich möchte weltlichere und weniger willkürliche internationale Rechtsgrundlagen, wenn es darum geht, was erlaubt und was verboten ist. Entgegen manch hysterischem Geschrei bin ich durchaus der Meinung, daß es sehr angebracht wäre, so etwas wie einen Weltpolizisten zu haben – allerdings einen, der an internationale Gesetze und Gerichtsentscheidungen gebunden ist, nicht einen, der sich seine Regeln jedesmal neu aufstellt, je nachdem, wie es ihm gerade paßt.

Ich gebe zu, daß beide Einwände recht schwach sind, denn sie zeigen zu dem tragischen Weg, der eingeschlagen wurde, keine Alternative auf. Außerdem glaube ich auch nicht daran, daß man die diplomatischen Bemühungen immer weiter hätte fortsetzen können. Kurzum: Ich sehe mich weder in der Lage, diese defensive Offensive der Nato absolut zurückzuweisen – noch kann ich sie enthusiastisch begrüßen.

Bleibt also nur ein verzweifeltes Schweigen? Nein, ich denke, noch gibt es ein paar Sätze zu sagen – und zwar gegen die Völker. Eine der grausamsten Lektionen gegen Ende dieses Jahrhunderts ist, daß nichts einen Menschen so sehr verdirbt wie, ihn davon zu überzeugen, einem Volk anzugehören. Das Prädikat „unterdrückt“ braucht man dazu gar nicht – das sind alle Völker ohnehin per Definition. Die nicht unterdrückt sind, sind „bedroht“, und ich weiß ehrlich gesagt nicht, was schlimmer ist. Wer unterdrückt oder bedroht die Völker? Ihr Bewußtsein. Das heißt ihre Führer, die beschlossen haben, die einfachen und oft sympathischen Menschen von ihrer Zugehörigkeit zu einem Volk zu überzeugen.

Um diese Zwangszugehörigkeit zu erreichen, unterstreichen sie die Unterschiedlichkeit der Ethnien bis zur Karikatur und töten in jedem einzelnen alle Eigenschaften ab, die ihn als Mischling ausweisen könnten, sowie seine Identfikation mit der Menschheit als solcher, die keinen grundsätzlichen Haß auf den Nachbarn kennt. Sie etablieren die Überhöhung der eigenen, mythischen Identität gegenüber der jeweils anderen. Anstatt innerhalb des gemeinsamen Zusammenlebens die Bürgerrechte wieder einzufordern, die so oft durch die Völker mit Füßen getreten wurden, verleugnen sie unsere Bestimmung, mit anderen friedlich zusammenzuleben, die sich in vier oder fünf Dingen von uns unterscheiden – und uns in vielleicht zehntausend anderen Dingen gleichen.

Zweifelsohne sind nicht alle Führer der Völker gleich. Es gibt solche, die sich gewaltsam ans Ausrotten machen – wie seinerzeit Franco und heute Miloevic –, und selbst das gereicht nur teilweise jenen zur Ehre, die sich gegen diese Leute stellen. Ich habe vor einiger Zeit Kosovo-Albaner von der Unmöglichkeit des Zusammenlebens mit den Serben sprechen hören, weil diese keine Slawen seien, und heute erklären viele Flüchtlinge – eher verständlich –, daß sie nicht wieder in das Kosovo zurückkehren wollen, bevor dort nicht auch der letzte Serbe verschwunden ist. Oder daß das Kosovo ihnen gehört, weil sie dort schon seit den Zeiten Christi leben.

Das Zauberwort der einen wie der anderen heißt „Selbstbestimmung“, aber im ironischen Sinne Hans Magnus Enzensbergers verstanden: Das von einem Teil der Bewohner eines Gebietes beanspruchte Recht, darüber entscheiden zu dürfen, wer wie in diesem Gebiet leben darf. Sich als Teil eines Volkes zu wissen, bedeutet, die besondere Würde zu erlangen, sich in den anderen Völkern niemals auflösen zu können und mit zwei oder drei Gegnern (und das sind immer die unmittelbaren Nachbarn) völlig inkompatibel zu sein. Man verwandelt sich in einemenschliche Orchidee oder – öfter – in eine fleischfressende Pflanze. Alles die gleiche Botanik. Und innerhalb von so viel Unkraut gibt es kaum Platz für die wirklichen Bürger des 20. und 21. Jahrhunderts, wie unseren Vladimir Nabokov: „Ich bin ein nordamerikanischer Schriftsteller, geboren in Rußland, aufgewachsen in England, wo ich französische Literatur studierte, bevor ich fünfzehn Jahre in Deutschland lebte ...“

Als die alten Diktaturen zusammenbrachen, ist der nationalistische Populismus in Europa mit aller Macht zutage getreten. Er dient als Alibi, um das Entstehen wirklich demokratischer Staaten zu verhindern und um denen das Leben zu erschweren, die es geschafft haben, sich mehr oder weniger zu bilden und vorzubereiten. Michael Ignatieff hat das in seinem jüngsten Buch „Die Ehre des Kriegers. Ethnische Kriege und modernes Bewußtsein“ sehr gut ausgedrückt. Das Buch sollte in den Schulen gelesen werden: „Der Nationalismus der einfachen Leute ist eine sekundäre Folge der politischen Auflösung, eine Antwort auf die Zerstörung der Ordnung, die das Zusammenleben der Ethnien ermöglicht hat. Der Nationalismus schafft Angstgemeinschaften, Gruppen, die davon überzeugt sind, daß sie nur zusammen sicher sind. Menschen werden Nationalisten, wenn sie vor irgend etwas Angst haben, wenn sie auf die Frage 'Und wer beschützt mich jetzt?‘ nur die Antwort 'Die Meinen.‘ wissen.“

Das ist der Nährboden, auf dem Miloevic und Konsorten gedeihen können. Gar nicht daran zu denken, daß es noch immer verirrte Leute gibt, die gegenüber dem Europa der Staaten ein Europa der Völker fordern! Ein Europa der Völker zu fordern heißt, dem Europa der Verbrechen grünes Licht zu geben. Aus dem Spanischen von Bernd Pickert

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