: Von Rentnern im Wald und toten Soldaten im Krieg
■ Drei Reden, mit denen Bundespräsident Johannes Rau die Republik verändern wird
Die „Wald-Rede“
Einweihung des Seniorenwanderwegs in Bad Dürkheim/Pfalz am 30. Mai 2001, kurz nach dem Kollaps des Rentensystems
„Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich freue mich, heute hier zu Ihnen zu sprechen. Die Sonne strahlt, der Wald steht in voller Blüte, kurz: Die Natur ist uns wohlgesinnt. (...) Es ist wichtig, sich immer wieder darauf zu besinnen, daß es höhere Kräfte gibt als jene, die in der Politik, in der Wirtschaft, in den Versicherungssystemen walten. Gerade am heutigen Tag sind solche Momente der Besinnung kostbar, denn es liegen schwere Wochen hinter Ihnen.
(...) Die plötzlich notwendig gewordene Umstellung des Rentensystems auf Grundrenten ist für viele von Ihnen, ich weiß es, ein harter Schlag. (...) Viele von Ihnen, da will ich ehrlich sein, werden sich von Lebensabendträumen verabschieden müssen. (...) Aber vielleicht ist es auch eine Chance, den Lebensabend eben nicht auf Mallorca zu verbringen. (...) Die Einweihung dieser ersten Seniorenwanderstrecke steht für diese Chance, eine Chance auf eine Lebensphilosophie jenseits des Materiellen. (...) Wandern – ist das nicht ein Glückserlebnis, das die Last des Materiellen vergessen macht? (...) Und müssen wir nicht auch innerlich wandern zu einer neuen Bescheidenheit? (...) Auch in der Natur gilt: Der junge Baum wächst, der alte macht Platz.
Die „Sarg-Rede“
Staatsakt für den ersten gefallenen Bundeswehrsoldaten, 4. Juni 2000, im Reichstagsgebäude
Meine Damen und Herren, bitte gestatten Sie mir aus Anlaß dieses schweren Tages eine Anrede, die mir aus meiner Kindheit in einem Pastorenhaushalt wohlvertraut ist: Liebe Trauergemeinde! (...) Im Angesicht des Sarges werden wir alle, ob groß, ob klein, zu einer Gemeinde. Heute trauert nicht nur eine Familie, heute trauert Deutschland. (...) Vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit ist angezweifelt worden, ob ein militärisches Zeremoniell angemessen ist. Ich rufe allen Zweiflern zu: Die Bundeswehr steht nicht nur auf dem Balkan, sie steht auch in der Mitte unserer Gesellschaft! (...) Ich begrüße es ferner ausdrücklich, daß hier Vertreter von über 20 europäischen Staaten versammelt sind. (...) Die Lehre aus unserer Geschichte kann nur sein: Deutschland kämpft mit seinen Verbündeten, Deutschland trauert mit seinen Verbündeten.
Die „Mittelweg-Rede“
Weihnachtsansprache 2001 nach dem Ende von Rot-Grün und der Bildung der Großen Koalition
„Liebe Bürgerinnen und Bürger! Es gab Weihnachtstage, in denen wir nicht auf solche turbulente Monate zurückblicken mußten wie in dieser Zeit, in dieser Zeit des Streits, aber auch der neuen Lösungen. (...) Gerade in aufgeregten Momenten, in Zeiten des Wandels muß man oft erkennen, daß für die Dinge, die zu Ende gehen, tatsächlich die Zeit gekommen ist. (...) Der Wechsel in der Regierung ist eine Veränderung, die von heftigen Gefühlen begleitet war. Doch jetzt, wo sich neue Lösungen fanden, zeigt sich: Alle Wege führen zum Mittelweg. Der Mittelweg ist nicht ohne Grund der Mittelweg. Oft ist es der beste.
Barbara Dribbusch,
Patrik Schwarz
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