■ H.G. Hollein: Nuancen
Die Frau, mit der ich lebe, färbt sich gelegentlich die Haare. Dagegen ist an sich nichts zu sagen. Allein, die damit verbundene Einforderung einer angemessen enthusiastischen Reaktion macht mir bisweilen meine artikulativen Grenzen schmerzlich bewußt. Zwischen rehrot, rostrot und rubinrot eine ebenso feindifferenzierte wie originelle Wirkungsanalyse zu improvisieren, ist allemal ein risikoreiches Unterfangen. Unsensibles Timing etwa hat mir schon so manch wohlvorbereitetes Kompliment zuschanden gemacht. Ein zu langes Betrachten läßt die Gefährtin auf nur mühsam unterdrücktes Entsetzen schließen, während sofortige Begeisterung ein verletztes „Du hast ja gar nicht richtig hingesehen“ zur Folge hat. Auch gilt es, allzu ungebremsten Überschwang zu meiden, da der verbitterte Rückschluß unvermeidlich lautet: „Vorher fandest du es also Scheiße.“ Böse Worte sind in diesem Zusammenhang übrigens „allerliebst“, „putzig“ oder „interessant“. Auch scheinbar spontan hervorgestoßene Steigerungen wie „super“, „voll super“ und „hupa-dupa super“ lösen bei der Gefährtin ein nicht ganz unbegründetes Mißtrauen aus. Den höchsten Wiedergutmachungskoeffizienten konnte ich bisher allerdings für das Attribut „megafett“ ausmachen. So will die Gefährtin offenbar nicht wahrgenommen werden. Am besten kam ein lakonisch-cooles „kann so bleiben“ an. Möglicherweise lag die positive Resonanz aber auch nur an der Verbindung mit einem lüstern-animalischen Schnauben, das sich mir – ehrlich gesagt – doch eher farbunabhängig entrang. Und bei allzu häufiger Wiederholung wittert die Gefährtin womöglich irgendwann den Braten. Aber ich glaube, daß ich endlich einen Ausweg gefunden habe: „Von tiefem Kirschrot, in nuancierten Abstufungen zum Rand hin heller werdend und mit Goldreflexen durchsetzt.“ Hugh Johnsons Verkostungsnotizen aus der weiten Welt des Weines sind eben in ihrer Poetik von geradezu ingeniöser Multifunktionalität.
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