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Nur mit Tricks kommt man am Hamburger Hauptbahnhof noch zu Geld

Hauptbahnhof. Gegen 8 Uhr morgens. Ein Mann in einer abgetragenen Armeejacke und Filzhausschuhen nähert sich der Gourmet-Station in der Wandelhalle. Die Kapuze seines Sweatshirts ist ihm viel zu groß. Die Männer von der Securitas versperren ihm den Weg. Nein, er wolle gar nicht betteln, versichert er. Umständlich stellt er seinen grünen Rucksack samt braunkariertem Schlafsack vor dem kleinen Supermarkt ab und verkündet, er wolle nur eine Dose Cola kaufen. Danach wird der Mann eiligst fortgeschickt.

Mancherorts ist nicht einmal das Betteln erlaubt. Der Bahnhof ist für die Habenichtse zum Sperrgebiet geworden. Sie dürfen sich nur außerhalb der Überdachung aufhalten und frieren; andernfalls würden sie im Handumdrehen einer Patrouille in die Arme laufen.

Wer am Hauptbahnhof dennoch Geld „verdienen“ will, muß sich schon etwas einfallen lassen. Ein unauffällig gekleideter Mann mit Aktenkoffer bittet eine Passantin um „15 Mark für eine Fahrkarte nach Stade“. Er habe seine Brieftasche zuhause liegengelassen, müßte dringend ins Büro und sei nun völlig aufgeschmissen. Selbstverständlich wolle er ihr den Betrag zurückerstatten. Die Passantin zückt ihr Portemonnaie. Als sie in der Unterführung zur U-Bahn verschwunden ist, kommt schon der nächste dran: „Könnten Sie mir mit 15 Mark aushelfen...?“

Wer weniger sprachgewandt ist, versucht es vor dem Bahnhof mit Musik wie die Peruaner, die sogar Cassetten mit Andenmusik verkaufen. Oder die Russen mit ihren Streichinstrumenten. Die Musiker spielen an einem Tag mehr Geld ein, als sie in ihrer Heimat in einem ganzen Monat verdienen könnten. Die Männer mit den Pelzmützen und den dicken Anoraks kommen größtenteils aus der Ukraine und sprechen kein Deutsch. Vor ihnen steht ein geöffneter Instrumentenkoffer für die Münzen der Vorüberziehenden. Ein Photo zeigt vier elegante Herren mit Musikinstrumenten in schwarzen Anzügen vor einem klassizistischen Bau. Das Streichquartett muß einmal bessere Zeiten gekannt haben.

Vor dem Bahnhof zieht Thorsten* seine ersten Kreise. Mit Händen in den Hosentaschen und trotz der Kälte offener, flatternder Jeansjacke geht er zielstrebig auf einen etwa gleichaltrigen Mann zu und sagt seinen Spruch auf: Sein Zimmer am Hansaplatz koste täglich 50 Mark. Wenn er nicht zahlen könne, müsse er „wieder Platte machen“. Der Mann versteht ihn erst nicht, rückt dann aber bereitwillig einen Schein heraus und geht weiter. Für das Pensionszimmer kommt freilich das Sozialamt auf.

Zurück zum Bahnhof. Zwei, die gar nicht mehr weiterwußten, haben versucht, einer jungen Frau die Umhängetasche wegzureißen. Einer hielt ihr einen Zettel mit einer Adresse hin und fragte nach dem Weg. Der andere packte blitzschnell zu. Doch die Pendlerin schrie wütend „nicht schon wieder“ und hielt die Tasche fest. Nun trollen sich die Männer mit einiger Geschwindigkeit. „Das wäre das zweite Mal in diesem Jahr gewesen“, flucht die Frau und mustert ihre neue Collegetasche.

Den beiden Polizeibeamten, die den Wandelhallenbereich ständig im Auge haben, ist diese Szene entgangen. Sie beobachten angestrengt einen Kerl mit Schirmmütze, der einem Mädchen ein Heroinbriefchen zugesteckt hat. Vielleicht ist sie fünfzehn, die Blockabsätze lassen sie größer und älter erscheinen. Die Beamten lassen sie ziehen.

Das Personal der Gourmet-Station schenkt Kaffee aus oder setzt – am spanischen Stand – eine riesige Paella an. Keiner beachtet die Alte, die nur noch ein Schatten vom Leben ist und jetzt mit ihrem Krückstock zum Bäcker vordringt. Zentimeter für Zentimeter schieben sich die alten grauen Stiefel voran. Ihren letzten Besitz hat sie auf einen Einkaufskorb mit Rollen geschnürt. Vor dem mit Aprikosen gefüllten Käsekuchen bleibt sie stehen. Sie wird von niemandem verscheucht, aber es gibt ihr auch keiner etwas. Nach einer Weile legt sie ihren weinroten Schal wieder um und schlurft davon. Lisa Schönemann

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