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Schöne neue Sombreros

Sergej Eisensteins Film „Que viva Mexico“ kommt wieder in die Kinos. Aber wie sieht der mexikanische Film heute aus? Ein Rückblick von den dreißiger Jahren bis heute    ■  Von Anne Huffschmid

Der Meister höchstpersönlich kam mit der Kamera nach Mexiko. Fand Märkte, Kakteen und Ruinen, die Schönheit und den Stolz der indianischen Gesichter, die Wucht und Weite der Landschaften: „Que viva México!“ rief er verzückt aus und nannte so auch seinen Film. Das war 1931, der Meister hieß Sergej Eisenstein, das Werk wurde niemals fertiggestellt – und begründete doch eine Art kinematographischen Mexikanismus. Eine neue Ikonographie, die des postrevolutionären Mexikos, war geboren.

„Wir schulden Eisenstein wirklich eine Menge“, meint Gustavo Montiel, einer der Leiter der staatlichen Produktionsgesellschaft IMCIME, „aber wir haben ihm wohl auch zu verdanken, für immer zu Kakteen und Indios verdammt zu sein.“ Ein paar Klischees sind inzwischen noch dazugekommen. Auf internationalen Festivals heißt es immer wieder: Ah, Mexikaner? Oh, Frida Kahlo! Oder: schöne Sombreros! Oder auch: die armen Indios von Chiapas! „Das alles sind wir natürlich“, sagt Montiel, „aber doch nicht nur.“

Um neue Bilder und Geschichten geht es dem Nuevo Cine Mexicano, dem Neuen Mexikanischen Kino, schon seit den siebziger Jahren. Doch ausgerechnet mit dem perfekt gefilmten Melodram „Bittersüße Schokolade“ (1992, Alfonso Arau), einem kitschigen Bilderreigen über die Verschlungenheit von sinnlicher und kulinarischer Lust vor der Kulisse des alten, patriachalen Mexikos, hat das mexikanische Kino vor wenigen Jahren seinen ersten internationalen Treffer gelandet. Dabei ist die Lage auch in den Neunzigern eher bitter denn süß: eingeschnürt von den Zwängen der Wirtschaftskrise, bedrängt von stereotypen Erwartungen und dem Big Brother in Hollywood bemühen sich Filmemacher und Produzenten um ein Profil, das jenseits von Kaktus-Klischees und Indiokitsch nicht zuletzt auch dem eigenen Publikum wieder Lust auf hausgemachtes Kino machen soll.

Dabei kann das mexikanische Kino auf glorreiche Zeiten zurückblicken. In der Epoca de Oro, der goldenen Epoche der vierziger und fünfziger Jahre, sahen die MexikanerInnen noch zu sechzig Prozent heimische Produktion – heute sind es weniger als 20 Prozent. Das Kino war der „Spiegel der Nation“, so der Kulturkritiker Carlos Monsiváis, mit seinen saftigen Familiendramen, der Liebe und der Revolution, den Ranchero-Komödien, der sentimentalen Mariachi-Musik. Später kam die städtische Halbwelt zwischen Tanzclubs und Boxarenen dazu. Neben dem Bauern, dem Hacienda-Besitzer und dem Revolutionär eroberten nun auch die Prostituierte, die tapfere Mutter und die reiche „Señorita“, der Lebemann und der komische Vagabund die Leinwand. Das Antlitz von „La Doña“ Maria Felix, der Königin und Femme fatale des mexikanischen Kinos, der jungenhafte Charme eines Pedro Infante oder der irrwitzige Schalk eines Cantinflas werden bis heute von Millionen Mexikanern inbrünstig verehrt. Vor allem aber wurde eine Leidenschaft perfektioniert, die bis heute alle Kultur des Landes prägt: das Melodram, als „Katharsis des Durchschnittsmenschen“, so Monsiváis, das die Theatralik der großen Geste zelebriert, die Lust an Selbstmitleid und Sentimentalität.

Der Glanz der goldenen Epoche verblaßte schnell. Hollywood hatte sich wieder vom Krieg erholt, kaufte Studios auf, warb die Stars ab, und US-Firmen übernahmen bald auch das Verleihgeschäft. Doch auch die Closed-shop-Politik der mexikanischen Staatsgewerkschaften sorgte dafür, daß talentierte Filmemacher und Kameraleute ohne Arbeit blieben. In den siebziger Jahren wurde die Filmindustrie vollends verstaatlicht. Dieses Modell bracht wenige Jahre später zusammen, und die staatliche Filmförderung entstand. Unter deren Fittichen wuchs in den Nachwehen der achtundsechziger Revolten auch in Mexiko eine junge Generation von Filmemachern heran, die zu den Begründern des Nuevo Cine Mexicano zählt: Regisseure wie Arturo Ripstein, Jorge Fons, Paul Leduc, Jorge Herberto Hermosillo, Gabriel Retes oder Alfonso Arau. Eine ästhetisches oder gar filmpolitisches Konzept war hier, anders als bei der Nouvelle Vague oder dem neuen deutschen Film, jedoch kaum gemeint – eher Aufbruchstimmung und der Versuch „alte“ Themen, wie die mexikanische Familie oder die Revolution, neu zu erzählen oder ganz neue Sujets – wie die Revolte der Frauen und die Dramen der Mittelschichten – für das Kino zu entdecken. Einen Tiefpunkt erreichte die Filmproduktion dann in den 80er Jahren: Minderwertige Massenware füllte die Leinwände, um die 120 Filme pro Jahr, meist schnell abgedrehter Trash um Nutten und Narcos.

Erst Ende der achtziger Jahre kam wieder Bewegung in die mexikanische Filmlandschaft. Jenseits von Kommerz und staatlichen Allmachtsphantasien bemühen sich heute Institutionen wie IMCIME, gezielte Anreize für die Entstehung eines zugleich innovativen und attraktiven Qualitätskinos zu schaffen. Zwei Beispiele für Filme, die diese Wende einleiten und für das Kino tabuisiertes Terrain erschließen, sind: „Rojo Amanecer“ („Rotes Erwachen“, 1989, von Jorge Fons) und „La Tarea“ („Die Aufgabe“, 1990, von Jorge Herberto Hermosillo). Als erster Spielfilm greift „Rojo Amanecer“ ein Thema – und Trauma – aus der mexikanischen Innenpolitik auf: das Massaker von 1968, bei dem Hunderte von friedlich demonstrierenden StudentInnen von der Armee erschossen wurden. Als geschickt inszeniertes Kammerspiel, bei dem eine Kleinfamilie – und mit ihr die Zuschauer – dem blutigen Geschehen nur akustisch vom geöffneten Fenster aus beiwohnt, kommt der Film ohne aufwendige Blutbäder aus.

Nicht weniger provokativ, wenn auch ohne den zeitpolitischen Impetus, war „La Tarea“: Aus einer einzigen fixen Einstellung beobachtet die Kamara eine Filmschülerin, die, scheinbar als Hausaufgabe für ihr Dokumentarfilmseminar, ihren ehemaligen Liebhaber vor einer versteckten Kamara verführt. Diese Kombination von Witz, Wollust und weiblichem Begehren gab es im mexikanischen Film noch nie zu sehen.

Wie verwundbar und abhängig der junge Film immer noch ist, zeigt der Wirtschaftscrash von 1994: in den beiden Folgejahren hatte sich die Anzahl produzierter Spielfilme abrupt halbiert, im Schnitt werden heute nur noch rund zehn Spielfilme im Jahr gefördert. Wieder ist es eine neue Generation von FilmemacherInnen, die den qualitativen Aufschwung begründen soll: junge Regisseure wie Carlos Carrera, Guillermo del Toro, Roberto Sneider, Nicolas Echeverria, Alfonso Cuarón oder Carlos Marcovich, dessen rasante Dokumentarcollage „Wer zum Teufel ist Juliette?“ auch in Deutschland zu sehen war. Und diesmal sind auch weibliche Regisseure dabei: Busi Cortés, Marisa Systach, Dana Rotberg und Maria Novaro, deren drei Spielfilme – „Lola“, „Danzon“ und „El Jardin del Eden“ – auch auf internationalem Parkett große Beachtung gefunden haben.

Dort sind es allerdings noch immer eher die Altmeister, die den Ton bzw. das Bild angeben: 1995 lief Jorge Fons Film „El Callejón de los Milagros“ (Die Straße der Wunder), die Adaptation eines Romans des Ägypters Nagib Mahfuz, auf der Berlinale. Einige Jahre später war Arturo Ripsteins Film „El Evangelio de las Maravillas“ (etwa: das Evangelium der Wunder) – ein beklemmendes Bibelepos über den spirituellen Mikrokosmos einer Sekte, die den Weltuntergang erwartet – in Cannes eingeladen.

Es ist nur eine kleine Gruppe, die sich ganz dem neuen Kino verschrieben hat. Zu sehen sind immer wieder dieselben Namen und Gesichter, ein Dutzend Regisseure und eine Handvoll Schauspieler, die zwischen Bühne, Leinwand und Bildschirm pendeln. Vom Kinomachen allein kann keiner leben, auch viele der Stars müssen ihre Brötchen mit TV-Serien und Werbespots verdienen. Die meisten der renommiertesten Regisseure haben in ihrem Leben nicht mehr als zwei oder drei Filme drehen können.

Aber das Nuevo Cine Mexicano kränkelt nicht nur an materiellen Widrigkeiten. Der Hang zum Kitsch scheint noch nicht überwunden. Noch ist viel Selbstmitleid und wenig Selbstironie zu spüren, die Stärke liegt eher in den grellen als in den subtilen Facetten, selbst der Witz kommt eher feuchtfröhlich denn knochentrokken daher. Ein Beispiel ist „El Callejón“: was als schön aufgefächerter Figurenreigen aus einem mexikanischen Kiez beginnt, endet als plattes Rotlichtmelodram. Oder auch der neue Film von Jorge Hermosillo „De Noche vienes Esmeralda“ (etwa: Du kommst aus der Nacht, Esmeralda), eine deftige Möchtegernkomödie um eine Frau mit fünf Ehemännern – und sonst gar nichts.

Erstaunlich ist auch, wie wenig mexikanische Gegenwart auf der Leinwand zu sehen ist. Carlos Mendoza, Leiter der unabhängigen Videoproduktionsfirma „Kanal 6. Juli“ formuliert es drastisch: „Die letzten zehn Jahre sind im mexikanischen Kino praktisch nicht vorgekommen: die Erdbeben, die neuen Gesichter der Demokratiebewegung, der Indio- Aufstand von Chiapas“. So setzt der gelernte Filmemacher, der sich auf die Produktion radikaler, aber professionell gemachter Politvideos spezialisiert hat, nach wie vor auf das flexiblere Kassettenformat. Damit lassen sich die regulären Vertriebsmonopole umgehen – und die Zensur, die laut Mendoza immer noch das ganz große Politkino im Lande verhindert. Gustavo Montiel glaubt dagegen eher, daß die Zeiten institutioneller Zensur ebenso vorbei sind wie das fast 70jährige Machtmonopol der Regierungspartei. Beunruhigender findet er, „daß es derzeit eigentlich gar keine Filme gibt, die einen Zensor herausfordern könnten“.

Skeptisch beäugt wird auch der „braindrain“ gen Norden. Ein paar der Mexikaner, die ihr Glück im heimatlosen Hollywood-Kino versuchen, haben dort auch Erfolg. Zum Beispiel der Regisseur Alfonso Cuarón mit seinem Film „Great Expectations“. Die Schauspielerin Salma Hayek, die Protagonistin aus „El Callejón“, wohnt seit sechs Jahren in Beverly Hills und bastelt derzeit an ihrer Traumrolle, einem Film über die mexikanischen Malerin Frida Kahlo. Und auch Alfonso Arau hat sich schon lange in die Traumfabrik abgesetzt, wo er gegenwärtig ein Großprojekt über das Leben von Emiliano Zapata vorbereitet. Dazu hätte Arau gerne auch Geld aus seinem Heimatland. Doch Gustavo Montiel winkt ab: „Soll er doch seinen Zapata-Film in den USA machen! Ich glaube kaum, daß die Sowjets seinerzeit Geld für den Hollywood-Streifen ,Stalin‘ gegeben hätten.“

Neue Wege im Lande selbst will unterdessen ein junger Filmemacher beschreiten, dessen Vater schon der mexikanischen Literatur zu Weltruhm verholfen hat: Juan Carlos Rulfo, jüngster Sohn des Schriftstellers Juan Rulfo („Pedro Parámo“, 1955). „Docuficción“ nennt der 34jährige seine Methode, eine Art dritter Weg zwischen Dokumentation und Fiktion, der von der Poesie der Bilder und Worte, vom Zauber lebendiger Menschen und Legenden lebt.

Schon in seinem ersten Film „El Abuelo Cheno y otras historias“ (Der Großvater Cheno und andere Geschichten) der seit ein paar Jahren auf internationalen Festivals Furore macht, hatte der junge Rulfo die mysteriöse Ermordung seines Grossvaters auf einer entlegenen Hacienda zum Anlaß genommen für eine wundersame Collage von Geschichten und Gesichtern eines untergegangenen Mexikos. In seinem neuen Film „Del olvido al no me acuerdo“ geht es nun um den eigenen Vater. Nicht im Sinne einer biographischen Spurensuche oder Familiengeschichte, sondern als poetische Rekreation des Rulfoschen Universums. Nachgespürt wird den Orten, die den Dichter auf seinen Reisen durchs Land, lange vor „Pedro Páramo“, inspiriert haben: die verwunschenen Plätze des ländlichen Mexiko, die Straßen der Kindheit und der Llano, die magisch anmutende Steppe im Nordwesten des Landes.

Ursprünglich sei das Projekt als Essay über das Verhältnis von Leben und Schreiben, von Literatur und Wirklichkeit angelegt gewesen. Doch im Laufe der Recherche hätten sich die Protagonisten, die uralten Männer und Frauen, Zeitgenossen, Reisegefährten oder Nachbarn des berühmten Literaten, den Film „einfach angeeignet“. Wie er es geschafft hat, die campesinos mit ihren hundertjährigen Faltenlandschaften im Gesicht zum Lachen und zum Reden, zum Singen und Gedichterezitieren, zu bringen, bleibt sein Geheimnis. Das Wort Literatur fällt gar nicht mehr, auch um den Vater geht es nur vordergründig. Im Mittelpunkt steht die Liebe oder besser: die Erinnerung an die Liebe. Mit rauhen Stimmen erinnern sich die Alten an ihre ersten Liebschaften, an die Hahnenkämpfe und daran, wie man sich einst um die Liebste mit der Machete duelliert oder welche Gedichte der Verehrer vorgetragen hat.

Rulfo selbst taucht nur noch als Stimme auf. Zusammen mit der Kamara gleitet sie sanft und schwerelos über die Landschaften, über die Bäume und Berge. Juan Carlos erinnert sich: an das Begräbnis der Großmutter, an den Geruch der Orangen. Er zeigt dazu nicht die schwere, kerzenbeleuchtete Düsternis des Todes, sondern eine alte Frau, die mit ruhigen Bewegungen Orangen von den Bäumen schneidet. Dann wieder langes Schweigen. Wind, Echos und Schatten.

Imagination und Mythos – zwei urmexikanische Themen. Juan Carlos wehrt bescheiden ab. „Ich kann mich wohl einfach eher mit den Alten identifizieren“, sagt er leise lächelnd. Ähnlich, wie viele seinen vor 12 Jahren gestorbenen Vater in Erinnerung haben, scheint auch der junge Rulfo etwas scheu, fast verlegen in der Welt zu stehen. Der verdunkelte Schnittplatz in der Wohnung wird zu einer Art Zuflucht vor der Unübersichtlichkeit der hektischen Hauptstadt, auch vor der grellen Leichtigkeit, der lärmenden Kommerzialität vieler Kollegen.

Ein moderner Melancholiker? Vielleicht. Mit Sicherheit aber einer der Filmemacher, der dazu beitragen könnte, dem mexikanischen Kino endlich ein neues, ganz und gar eigenes Gesicht zu verschaffen.

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