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Lügen haben lange Beine – und kurze Nasen    ■ Von Karl Wegmann

Zeigt mir den Menschen, der behauptet, noch nie gelogen zu haben, und ich zeige euch einen Lügner. Gelogen wird ständig, und zwar von jedem. Was ist schon die Wahrheit gegen eine attraktive Lüge? Gerade in Kriegs- und auch Nachkriegszeiten feiert die Lüge grandiose Feste. Schon Winston Churchill wußte: „Im Krieg ist die Wahrheit so wichtig, daß sie stets von Lügen als Bodyguard begleitet werden muß.“ Soll heißen: „Versucht's gar nicht erst, an die Wahrheit kommt ihr nicht ran.“

Was im großen Welttheater funktioniert, klappt natürlich auch prima in der privaten Puppenkiste. Da wird „er“ nach dem Sex gefragt: „Na, war es schön für dich?“ Und anstatt ehrlich zu anworten: „Na ja, im Mittelteil hättest du vielleicht etwas mehr Enthusiasmus zeigen können“, murmelt unser Pinocchio ein schlichtes: „Aber ja, war toll“ – und behält trotzdem seine Stupsnase. Denn – und hier irrt die Bibel – Lügen ist nicht schlimm, Lügen verhindert Schlimmeres, Mord und Totschlag und solche Sachen.

Versuchen Sie zum Beispiel niemals, in einem Restaurant auf die obligatorische Schlußfrage „Hat es geschmeckt?“ ehrlich oder auch nur ausweichend zu antworten. Die Folgen solch leichtfertigen Tuns können grausam sein. Deshalb immer nur: „Super!“ (Studi-Kneipe), „ausgezeichnet“ (gehobene Futterkrippe), „wirklich köstlich, also diese Vinaigrette...“ (Edelschuppen) etc. Und unter gar keinen Umständen auch nur den Hauch einer Kritik. Ich weiß wovon ich rede, ich bin ein Opfer.

Also, ich wollte in Tübingen eine Pizza essen. Was? Jajaja, ich weiß, jetzt schreien alle wieder „selber schuld!“, heute bin ich auch schlauer. Und der Laden sah nicht schlecht aus. Die Pizza allerdings war der reinste Gaumen-GAU. Aus dem Teig hätten sie ein Mischbrot oder einen Fußbodenbelag machen können, Tomaten waren kaum vorhanden, die Pilze sahen aus und schmeckten wie Korinthen, und der Käse war so alt, daß sie ihn nicht zum Schmelzen gekriegt hatten. Ich hatte Hunger und aß ungefähr ein Viertel von dem Ding, dann waren die Warnsignale des Magens nicht mehr zu überhören. Der Kellner kam, und ich machte einen Fehler – ich war ehrlich. „Irgend etwas nicht in Ordnung?“ fragte er, worauf ich ihm ein „Allerdings!“ um die Ohren haute. „Eine Unverschämtheit“, schob ich noch schnell nach.

Der Kellner holte den Geschäftsführer. Der holte den Koch. Und der wurde vom Chef und vom Kellner zusammengestaucht, niedergemacht, in der Luft zerrissen. Alles vor meinem Tisch in einem fast vollbesetzten Lokal. Die Menschen starrten mich an. Ich war das Schwein, das dafür verantwortlich war, daß dieser kleine Mann mit der weißen Schürze noch kleiner gemacht wurde. Nachdem er den Koch genug gefoltert hatte, wandte der Boß sich wieder mir zu. Mit einer Stimme, die einen Diabetiker in Schwierigkeiten gebracht hätte, säuselte er: „Natürlich zahlen Sie nichts, bitte suchen Sie sich ein anderes Gericht aus, wie wär's mit einem schönen Steak?“ Die anderen Gäste starrten mich immer noch an. Ich war der Typ, der ihnen den Samstag abend versaut hatte. Nichts wie raus.

Seitdem habe ich in einem Restaurant nie wieder die Wahrheit gesagt, und ich muß sagen, das Leben ist so viel angenehmer.

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