■ Wiederaufbauhilfe für den Balkan? Die Bereitschaft, sich den Frieden etwas kosten zu lassen, wird schnell zurückgehen: Kein Anschluß unter dieser Nummer
Nicht nur auf dem Plattenmarkt, auch im Politiktheater kommt ein mißratenes Remake selten allein. Kaum hat der Westen auf dem Balkan sein Weltkrieg-II-Revival zum vorläufigen Abschluß gebracht, übernimmt der euro-amerikanische George-C.-Marshall-Gedächtnis-Chor die Spitze der ideologischen Charts.
Clinton, Fischer und Co. trällern den geplagten Völkern Südosteuropas die frohe Botschaft: Hatten die USA Ende der 40er Jahre dem kriegszerstörten Westeuropa mit großzügigen Krediten einen Weg in die Wirtschaftswunderwelt geöffnet, weshalb angesichts von Wachstum, Wohlstand und Integration die nationalen Gegensätze verblaßten, so werden nun die Nato-Staaten auf dem Balkan durch uneigennützige Hilfe die Wiederholung dieses Mirakels möglich machen und die Region an „Euro“-Europa heranführen.
Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um vorauszusagen, was auf dieses vollmundige Versprechen folgen wird. Schon die politischen Rahmenbedingungen sind für eine Neuauflage des Marshallplans denkbar ungeeignet. Der wirtschaftliche „Altruismus“ der USA nach dem Zweiten Weltkrieg – die Bereitschaft der westlichen Vormacht, ihren künftigen Konkurrenten eine Anschubfinanzierung zu gewähren – hatte eine handfeste politisch-militärische Grundlage. Die „Großzügigkeit“ der US-Führung stand im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges und sollte die Länder der US-Einflußsphäre gegen die kommunistische Versuchung immunisieren.
Heute dagegen ist beim besten Willen kein vergleichbar starkes Motiv zu erkennen, das die westliche Staatengemeinschaft angesichts der Misere Südosteuropas dazu verlocken könnte, von ihrer gewohnten Knausrigkeit gegenüber allen Weltmarktverlierern längerfristig abzuweichen. Die USA haben an dieser Weltregion, wenn sie nicht gerade zufällig die Möglichkeit bietet, einen „Schurkenstaat“ abzustrafen, keinerlei Interesse – und Länder wie die BRD nur das negative, nicht von Flüchtlingen und von Greuelbildern im TV belästigt zu werden.
Mit wachsendem Abstand zu den Kriegseindrücken dürfte die Bereitschaft, sich den Frieden etwas kosten zu lassen, in Europa schnell zurückgehen. Schon heute operieren die potentiellen Geldgeber mit offensichtlich heruntergerechneten Zahlen. Daß Institutionen wie der IWF, die Deutsche Bank und die Münchner Bundeswehruniversität für den Wiederaufbau Mittel in der Größenordnung von 37 bis 57 Milliarden Mark veranschlagen, hat wenig mit dem realen Bedarf und viel damit zu tun, wo sie die Grenzen der westlichen Zahlungsbereitschaft sehen. Selbst wenn man wie die Bank für Wiederaufbau nur von den finanziellen Mitteln ausgeht, die seit dem Dayton-Abkommen tatsächlich nach Bosnien geflossen sind, und der Bevölkerung der betroffenen Länder eine entsprechende Summe zahlen würde, ergäben sich bereits Kosten von rund 200 Milliarden Mark.
Indem er den historischen Marshallplan beschwört, verspricht der Westen der Balkanregion aber mehr als nur ein banales Hilfsprogramm zur Beseitigung der unmittelbaren Kriegsschäden und Kriegsfolgelasten. Der Südosten des Kontinents soll in das „Europa der Integration“ (Fischer) aufgenommen werden und einen Platz in der westlichen Wohlstandssphäre erhalten. Damit wird eine Hoffnung geweckt, die selbst bei großzügiger Hilfe nie und nimmer zu realisieren ist. Die Transferleistungen durch westliche Regierungen und internationale Institutionen werden als Auftakt für den eigentlichen ökonomischen Schub angepriesen, nämlich den Zustrom von privatem Investivkapital.
Schon nach dem Dayton-Abkommen war eine solche Friedensdividende in Aussicht gestellt worden. Das Flugzeug, das eine Handvoll von Clinton zu dieser Reise genötigter potentieller Investoren bringen sollte, war damals symbolträchtig beim Landeanflug zerschellt. Nachfolger wurden bis heute nicht gesichtet. Es gibt keinen Grund, warum das diesmal wesentlich anders ablaufen und das globale Kapital in diesen schon vor dem Krieg längst niederkonkurrierten und im Wettlauf weit abgeschlagenen Regionen eine vielversprechende Anlagesphäre entdecken sollte.
Gesamtjugoslawien hatte vor seinem Auseinanderbrechen mehr als 30 Jahre marktwirtschaftlicher Reformversuche hinter sich, die unter dem Selbstverwaltungssozialismus zu keinem dauerhaften Erfolg und in ihrer neoliberalen Variante Ende der 80er Jahre zum Zusammenbruch der industriellen Produktion, zu Massenverelendung, vierstelligen Inflationsraten und massiver Kapitalflucht führten. Nach einem Jahrzehnt beschleunigten Niedergangs sind in den Zerfallsprodukten Tito-Jugoslawiens Schattenwirtschaft und Selbstversorgung zu tragenden Elementen einer Elends- und Plünderungswirtschaft geworden.
Auch in den politisch stabileren Ländern Rumänien und Bulgarien sieht es nicht viel besser aus. Und jetzt soll ausgerechnet diese Region, nur weil die westlichen Regierungen ein paar Bonbons verteilen, in der verschärften Standortkonkurrenz auf den globalisierten Märkten als Hoffnungsträger die Nachfolge von Süd-Korea und Taiwan antreten? Die vom Westen propagierte neue Entwicklungsperspektive ist nur eine Fata Morgana. Dennoch dürften die versprochenen Gelder durchaus ihre Wirkung haben. Sowenig der Westen auch willens und in der Lage ist, die südosteuropäischen Armenhäuser an das Weltmarktniveau und an die EU heranzuführen – als Stillhalteprämie für Nato-treue Staatschefs und Warlords reichen seine Millionen allemal.
Den Regierungen von Makedonien und Bulgarien wird ihre Loyalität vergolten. Im Kosovo selber wiederholt sich das Modell Bosnien-Herzegowina. Wie dort die konkurrierenden Ethno-Krieger weder entmachtet noch geläutert, sondern schlicht eingekauft wurden, so geht es jetzt auch mit der UÇK. Natürlich hat ein solcher Deal nichts mit einer Wendung zu „zivilgesellschaftlichen“ Verhältnissen zu tun. Dennoch dürfte er für ein prekäres Gleichgewicht sorgen. Ein Waffenstillstand und die Begrenzung der Übergriffe auf die im wahrsten Sinne des Wortes verschwindende serbische Minderheit haben für die UÇK durchaus etwas Verlockendes, wenn sie dafür vom Westen als legitime Staatsmacht anerkannt wird und ihre Kassen aus den anlaufenden Transferleistungen füllen kann.
Eine Konfliktlinie aber bleibt virulent – die Feindschaft des Weltpolizisten zu Milosevic' „Reich des Bösen“. Der Westen wird in einen Marshallplan, der keiner ist und der auf einen 2. Weltkrieg folgt, der keiner war, kaum ein Serbien einbeziehen, das weiterhin vom vermeintlichen Wiedergänger Hitlers regiert wird. In dieser Hinsicht gibt es nicht einmal falsche Versprechungen.
Ernst Lohoff
Die vom Westen propagierte Entwicklungsperspektive ist eine Fata Morgana
Der Marshallplan weckt Hoffnungen, die nicht zu realisieren sind
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