Kommentar: Wachstum ohne Ende
■ Wer zählt die Teilnehmer der Love Parade?
Liebe, so heißt es, macht blind. Das kann, im zwischenmenschlichen Bereich, zu allerlei Überraschungen führen. Beim kollektiven Taumel der Love Parade ist Blindheit dagegen Voraussetzung für das wirtschaftliche Gelingen des Unternehmens. Das betrifft vor allem die Zahl der Teilnehmer.
Seit Samstag ist Berlin wieder in den Schlagzeilen. 1,4 Millionen Raver – das ist nicht nur die größte „Demonstration“, die die Stadt je gesehen hat. Diese Zahl straft scheinbar auch all jene Lügen, die nach dem musikalischen Ende der Parade auch einen Knick im Zuschauerzuspruch prophezeit haben. Doch warum soll man den Veranstaltern des Megaevents mehr Vetrauen schenken als einem Manager, der am Ende eines Geschäftsjahres eine frisierte Bilanz vorstellt?
Für den Berliner Wirtschaftssenator stellt sich diese Frage offenbar nicht. „Wir hatten wieder mit einer Million Technofans gerechnet“, so Wolfgang Branoner (CDU), „aber nicht mit 1,4 oder 1,5 Millionen.“ Das paßt ganz in die wunderbare Mär einer Veranstaltung, die einmal mit ein paar hundert Außenseitern begann und nun zu einem der größten Wirtschaftsunternehmen der Stadt geworden ist. Eines Unternehmens freilich, für das ständig wachsende Teilnehmerzahlen entscheidend sind. Schließlich kommt die Jugend der Welt nicht zuletzt deshalb nach Berlin, um an einem Ereignis der Superlative teilzunehmen und nicht an einem Spektakel, das jährlich an Zuspruch verliert und bald als megaout gilt.
Da kommt es den Veranstaltern gerade recht, daß die Polizei keine Teilnehmer von Demonstrationen mehr zählt. Was wäre gewesen, wenn neben der Meldung 1,4 Millionen die Zahl „mehrere hunderttausend“ in den Zeitungen gestanden hätte? „Vielleicht ist damit auch die Spitze erreicht“, kommentiert der Wirtschaftssenator die Teilnehmerangaben der Veranstalter. Vielleicht ist die unkommentierte Übernahme des Superlativs aber auch Programm, die Spitze immer weiter vor sich herzuschieben. Geld läßt sich eben nur mit Wachstumsbranchen verdienen. Hat ein Event erstmal seinen Zenit überschritten, kann das Ganze schließlich binnen kürzester Zeit zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Uwe Rada
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