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Die unbekannte Großbaustelle

Zwischen den Bahnhöfen Gesundbrunnen, Bornholmer Straße und Schönhauser Allee entsteht mit dem sogenannten Nordkreuz ein Dreh- und Angelpunkt des Berliner Schienennetzes. Bis 2002 wird dort der drittgrößte Fernbahnhof der Stadt errichtet  ■   Von Ole Schulz

Jochen Meiser steht ganz allein auf der Brücke und schüttelt immer wieder den Kopf. Der pensionierte Bauingenieur ist fasziniert von dem Knäul der Gleise unter ihm. Wir stehen auf der gesperrten Behmbrücke zwischen Wedding und Prenzlauer Berg, mehr oder weniger im Zentrum des Nordkreuzes, wie das Bahnhofsdreieck zwischen Gesundbrunnen, Bornholmer Straße und Schönhauser Allee von Kennern genannt wird. Meiser will einen Bahnknotenpunkt dokumentieren, für den sich nicht allzu viele interessieren. Schnell macht der S-Bahn-Liebhaber ein Foto aus dieser Perspektive, dann noch eins von der anderen Seite nach Norden zur Bösebrücke, wo das Dreieck im Bahnhof Bornholmer Straße endet.

Genau dort, wo heute die Behmbrücke die Schienen kreuzt, stand bis 1989 die Mauer. Und eine der Absonderlichkeiten, die Berlin der Trennung der Stadt verdankt, ist an diesem auf den ersten Blick nicht besonders spannenden Ort zu bestaunen: Zwei S-Bahngleise nähern sich von Ost und West an, führen ein Stück schnurstracks parallel nebeneinander her und entfernen sich dann wieder voneinander. Denn die ursprüngliche Trasse verlief vom S-Bahnhof Bornholmer Straße westlich der Mauer bis nach Pankow im Osten. Weil die Mauer die Linie einfach durchschnitt, baute der Osten nach 1961 auf der anderen Seite eine neue Strecke, die bis heute vom Bahnhof Schönhauser Allee bis nach Pankow führt.

Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer wird nicht nur an dem Dreieck noch fleißig gebaut, sondern fehlt zudem auch ein großer Teil des Nordringes, bevor der 1877 eingeweihte und 1928 erstmalig für den S-Bahn-Verkehr genutzte Bahnring wieder geschlossen ist – und das, obwohl der damalige Verkehrssenator Haase (CDU) bereits 1991 angekündigt hat, den die Berliner Innenstadt umfassenden Ring binnen vier Jahren wieder in Betrieb zu nehmen. Doch bis heute fahren zumindest zwischen den Bahnhöfen Jungfernheide und Gesundbrunnen weder S-Bahnen noch Züge – damit ist Berlins (nah-)verkehrspolitisches Herzstück der Vorkriegszeit bislang nur unvollständig rekonstruiert.

Dem Autotunnel durch den Tiergarten wurde eben Vorrang eingeräumt, sagt Stefan Kohte vom BUND. „Die Finanzmittel wurden einfach umgeleitet. Dadurch hat sich die Ringschließung immer wieder verzögert; dazu kamen die üblichen baulichen Verzögerungen.“ Nicht nur für Kohte ist die bis dato vierjährige Verzögerung ein Indiz mehr dafür, daß es der CDU/SPD-Senat mit dem – ebenfalls 1991 – großspurig verlautbarten Versprechen, das Verhältnis zwischen öffentlichem Personennahverkehr und motorisiertem Individualverkehr auf 80 zu 20 Prozent quasi umzudrehen, nicht allzu ernst nimmt.

Der Ausbau des Nordringes mit dem Nordkreuz als östlichem Knotenpunkt sei aber auch eines der „größten und kompliziertesten Bahnprojekte Berlins“, hält Hardy Lücke, Sprecherin des DB-Projektes Knoten, dagegen. Logistisch schwierig sei vor allem, daß alle Arbeiten „unter rollendem Rad“ durchgeführt werden – was die Kunden derzeit vor allem beim nervenaufreibenden Schienersatzverkehr und dem recht kompliziertem Umsteigen zu spüren bekommen. Der Um- und Ausbau der Schienenwege und Bahnhöfe sei zwar „rein optisch für Außenstehende nicht so spektakulär wie etwa der Bau des Tiergartentunnels“, sagt Lücke, aber gleichwohl ähnlich aufwendig.

So wird der Bahnhof Gesundbrunnen zur Zeit für 200 Millionen Mark zum – nach Lehrter Bahnhof und Papestraße – drittgrößten Fernbahnhof Berlins ausgebaut. Vom „Tor des Nordens“, direkt neben dem Konsumufo Gesundbrunnencenter, sollen ab 2002 185.000 Menschen am Tag in S-Bahnen, Nah- und Fernzüge umsteigen. Allein elf tunnelartige Bauwerke mit einer Gesamtlänge von elf Kilometern müßten neugebaut werden, die gesamte Sanierung des Nordkreuzes werde etwa zwei Milliarden Mark kosten, so Lücke.

Der S-Bahn-Abschnitt zwischen Jungfernheide, Beusselstraße und Westhafen könne voraussichtlich schon im Januar kommenden Jahres in Betrieb genommen werden, sagt Lücke. Die Bahnhöfe Beusselstraße und Westhafen sind im Rohbau schon fertig. Dann fehlt nur noch der letzte Brocken: Der zwischen den Stationen Westhafen und Gesundbrunnen gelegene Bahnhof Wedding. „Günstigstenfalls Ende 2001 oder Anfang 2002“ könne der Innenstadtring endgültig geschlossen werden, äußert sich Lücke vorsichtig. Sicher ist sie sich nur, daß die Schließung des S-Bahn-Ringes eine „massive Verbesserung des Nahverkehrs“ bedeuten wird.

„Wir werden sehen, ob der Termin Anfang 2002 eingehalten wird“, gibt sich Kohte vom BUND skeptisch. Vor allem der Bahnhof Wedding werde noch eine Weile dauern, befürchtet Kohte. Wichtig sei insbesondere die Verbindung zum Bahnhof Westhafen, weil man von dort in die Nord-Süd-Achse der U-Bahnlinie 9 umsteigen könne, so Kohte. Der BUND kritisiert auch, daß die Anbindung des Berliner Umlandes zum Bahnhof Gesundbrunnen unzureichend ist: Während die Trasse der „Stettiner Bahn“ über Karow nach Bernau ausgebaut werde, sei für Henningsdorf kein Regionalzug-Anschluß vorgesehen.

Unstrittig ist dagegen, daß auch der fertige Innenstadtring und eine bessere Anbindung des Umlandes an das Berliner Nahverkehrsnetz allein kaum verhindern werden, daß immer mehr Menschen mit dem Auto in die City kommen wollen. Weil „wer Straßen sät, Verkehr erntet“, wie Hans-Jochen Vogel schon 1972 wußte, wird auch der Bau des Tunnels unterhalb von Spreebogen und Potsamer Platz mit einem autobahnähnlichen Anschluß über die vierspurige Behrensstraße zum Regierungsviertel und Tiefgaragen mit über 10.000 Stellflächen mehr Autofahrer in die City bringen.

Wenigstens die Mieter rund um die Behmbrücke können sich freuen, daß das inzwischen fast 40 Jahre bestehende Provisorium der zwei parallel laufenden S-Bahn-Trassen noch ein wenig Bestand haben wird. Denn solange die S-Bahn zwischen Schönhauser Allee und Pankow verkehrt, können keine Autos die Brücke passieren. Und zumindest solange wird es schön ruhig bleiben. Daß die Öffnung der Brücke „mit Sicherheit mehr Autoverkehr bringt“, glaubt auch DB-Sprecherin Lücke. Nicht zuletzt die motorisierten Kunden des Gesundbrunnencenters werden den Schleichweg über die Wohnstraßen nahe der Behmbrükke aber wohl schnell entdecken – und am Ende vielleicht auch mal kurz zurück zu den Arcaden-Passagen am S-Bahnhof Schönhauser Allee düsen.

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