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Raumschiff Europa

Gestern bezog das Europaparlament seinen neuesten Protzsitz. Es ist ein Glaspalast voller Symbole  ■   Aus Straßburg Markus Grill

Es ist, als wäre in Straßburg ein Raumschiff gelandet, zwei Kilometer Luftlinie vom Münster entfernt am Rand der Stadt in nordöstlicher Richtung. Wer sich ihm nähert, ist zunächst geblendet von einer Glasfassade, die sich über 13.000 Quadratmeter erstreckt, geblendet auch von der gewagten Architektur dieses gigantischen Bumerangs.

Schon heute gilt der 900 Millionen Mark teure Neubau des Europäischen Parlaments als Kunstwerk – er ist privat gebaut und wird nun an die EU vermietet. Ein noch dreimal teureres Parlamentsgebäude wurde bereits 1992 in Brüssel fertiggestellt. Die EU leistet sich den Wanderzirkus der Abgeordneten, weil weder Belgien noch Frankreich beim Streit um den Parlamentsort nachgeben wollen.

Das Fragmentarische steht für den Zustand der EU

Nach Ansicht seiner Architekten verbinden sich in dem Straßburger Neubau antik-griechische Demokratievorstellungen mit barocken Formen und moderner Rationalität. Gestern wurde das nach der französischen Politikerin Louise Weiss benannte Gebäude seiner Bestimmung übergeben. Um zehn Uhr eröffnete der Alterspräsident die konstituierende Sitzung des im Juni neu gewählten Europaparlaments. Die Parlamentarier betraten zuvor über eine der drei Brücken den 62 Meter langen und 42 Meter breiten Innenhof.

Das Oval erinnert an den Zuschauerraum einer alten Oper, nur daß sich auf den 15 Etagen hinter der Umfassungsmauer keine Zuschauerlogen verbergen, sondern die Büros der Abgeordneten. Wenn sie alle das Fenster aufmachen, können sie sich unterhalten und weiterdebattieren. Der Innenhof dieses Ovals ist frei zugänglich. Jeder Besucher könnte also ihren Debatten lauschen, ja sogar an ihnen teilnehmen. Doch angesichts des europaweit eher bescheidenen Interesses an diesem Parlament werden die 629 Abgeordneten auch künftig unbehelligt von ihren Wählern vor sich hinscheiden.

„Der Platz soll wie eine Agora im alten Griechenland wirken“, erklärt der Pariser Architekt René-Henri Arnaud (41). Er gehört zur Gruppe „Achitektur Studio Europa“, einem Zusammenschluß von sieben Stararchitekten, die 1991 den Wettbewerb für den Bau gewannen. Seit mehr als fünf Jahren arbeitet Arnaud hier und wird nicht müde, freundlich die demokratische Botschaft seiner Architektur zu betonen. So legt er Wert auf die Verbindung des Glaspalastes mit der Stadt. In dem Turmoval hat er eine Schneise frei gelassen. Sie führt wie ein spitz zulaufendes Kuchenstück genau in die Mitte des Innenhofs. Dreht man sich um, blickt man durch das Loch hindurch auf den Turm des Straßburger Münsters.

Am prächtigsten ist der Ausblick von der 60 Meter hohen Dachterrasse des Zirkusrunds: Erst in dieser Höhe sieht man, daß der obere Rand des Ovals nicht durchlaufend ist. Wie im griechischen Theater von Taormina öffnet sich hinter der aufgerissene Fassade ein Ausblick – auf Straßburgs Altstadt. Das Fragmentarische des Gebäudes soll nach Arnaud kein Spiel sein, sondern die Unvollkommenheit der Europäischen Union verdeutlichen.

Das Innere des Parlamentsgebäudes wird durch eine 190 Meter lange Hauptstraße zerfurcht, die selbst nicht begehbar, aber durch mehrere 9,6 Meter lange Brücken überquerbar ist. Man steht wie an einer Schiffsreling. Der Boden diese Hauptachse ist mit unterschiedlich großen schwarzen Schieferplatten belegt. Alle fünf Meter räkelt sich ein Philodendron oder eine Vitispflanze an straff gespannten Stahlseilen empor. Zwischen diesen Pflanzen hängen dünne Licht- und Wasserschläuche. Auf der anderen Seite der Brücken erreicht man den Plenarsaal, eine hölzerne Halbkugel, ein Gebäude im Gebäude, oder, wie der Pariser Architekt sagt, „die Kathedrale der Demokratie“.

Offiziell heißt der Plenarsaal „Dome“ und nach Angaben Arnauds ist es der größte Raum überhaupt in Europa, mit Platz für 750 Abgeordneten und Balkonen für 628 Zuschauer. Die Größe des Ovals ist mit 56 mal 44 Metern nur unwesentlich kleiner als sein Spiegelbild: der ovale Innenhof im Freien. Im Gegensatz zu dessen warmen Farben ist der Plenarsaal aber in Blau und Schwarz gehalten. Zur Kälte trägt bei, daß nur künstliches Licht den Saal beleuchtet.

Lediglich die Europa-Flagge hinter dem Präsidentenpult läßt sich hochfahren und eröffnet dann einen fenstergroßen Blick auf das Gebäude des Europarats, in dem das Parlament bisher zur Untermiete tagte. Eine 60 Meter lange Glasbrücke verbindet jetzt den Alt- mit dem Neubau. Die Holzkuppel umhüllt den als Amphitheater angelegten Plenarsaal wie ein Eierwärmer. In die Außenschicht sind Hunderte von Glühbirnchen eingearbeitet, die die Kuppel bei Nacht in einen Sternenhimmel verwandeln.

Eine wie eine Doppelhelix gebaute und Leonardo da Vinci nachempfundene Marmortreppe führt zu den weiteren Sälen des gigantischen Parlamentsgebäudes: Es gibt einen Saal für 350 Personen, einen für 260 Personen, vier Säle für 160 Personen, fünf für 120 Personen und 20 Säle für 60 Personen. Dazu kommen allein im äußeren Oval 1.133 Büros für die Verwaltung und für jeden Abgeordneten, ein Restaurant, vier Bars und eine Shoppingmall mit Reisebüro, Tabakladen, Bank, Souvenirshops und Post. „Wir wollten das alles natürlich monumental gestalten, dabei aber ein gutes Feeling verbreiten, ohne alle Aggressivität“, erklärt Arnaud. Wenn die Abgeordneten zwischen den Sitzgruppen und dem Plenarsaal wandeln, blicken sie durch die Glasfassade über den Fluß Ill hinweg auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

All diese Pracht für eine Sitzungswoche pro Monat? Denn so selten tagen die Abgeordneten des europäischen Parlaments in Straßburg, den Rest der Zeit verbringen sie in Brüssel. Empfindet der Pariser Architekten Arnaud das nicht als unziemliche Ignoranz gegenüber seinem Meisterwerk? Er zuckt die Schultern. Nein, wenn er sich nicht irre, seien die mittelalterlichen Könige auch immer nur ein paar Wochen im Jahr auf einer ihrer Pfalzen gewesen.

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