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In Fußballand

■ Christoph Biermann

Marvin sucht den Ball, oder, um es genauer zu sagen, er sucht den Weg des Balles. Es ist kein Fußball, sondern ein Baseball, der im Jahr 1951 bei einem legendären Spiel der Brooklyn Dodgers gegen die New York Giants geschlagen wurde, zur gleichen Zeit, als die Russen ihre erste Atombombe zünden. Marvin will den Weg lückenlos rekonstruieren, alle Besitzer benennen können, alle Hände, die den Ball weiterreichten, seit er den entscheidenden Flug über das Spielfeld hinweg in die Tribünen und Geschichtsbücher machte.

Die poetische Rache der Alltagskultur an denen, die sie zu ernst nehmen

Marvin hat sein Leben in den Dienst des Balles gestellt. Die Liste seiner Besitzer soll so lükkenlos sein wie die eines buddhistischen Lehrers, der die Namen seiner Lehrer zurück bis zum ersten Buddha benennen kann – und seiner Erleuchtung.

Vielleicht kann man die Bedeutung eines Fußballs, mit dem ein WM-Finale gespielt wurde, vergleichen mit diesem Baseball aus dem Jahr 1951. Ein Gegenstand mit einer Aura, und wir erinnern uns gleich, daß vor der Europameisterschaft 1996 in England die dortigen Boulevardzeitungen, immer Hüter populärer Mythen, die Jagd auf den Endspielball des WM-Endspiels von 1966 eröffneten. Der Ball, der nicht über die Linie ging. Am Ende fand er sich bei Helmut Haller in Augsburg – oben auf dem Schrank. Haller hatte den Ball nach Abpfiff einfach mit nach Hause genommen und gab ihn den Engländern anstandslos zurück.

Die Magie entfaltete sich aber nicht, die Rückkehr des heiligen Leders, mit dem die Engländer dreißig Jahre zuvor ihre einzige Weltmeisterschaft gewonnen hatten, half im entscheidenden Moment nicht. Im Halbfinale von Wembley schieden sie aus, im Elfmeterschießen gegen Deutschland. Den späteren Europameister.

Noch hat Marvin die letzte Lücke nicht schließen können, ein Besitzer des Balls, der allererste ist es, fehlt ihm. Krankheit bedroht sein Projekt, und vielleicht wird er sterben, ohne ganz sicher sein zu können, daß der Ball wirklich der richtige Ball ist. So sitzt er auf einer Etappe seiner Suche bei einem Händler für Baseball-Memorabilia, der, umgeben von Erinnerungsstücken, in einem kleinen, unordentlichen Laden auf Kunden wartet. Don Delillo hat diese Geschichte in sein Epos „Unterwelt“ eingewoben. „Ich sitze hier mit meinem bröselnden Papier. Darin liegt eine poetische Rache“, läßt er den Händler sagen. Marvin versteht nicht, was gemeint ist. „Die Rache der Alltagskultur an denen, die sie zu ernst nehmen“, sagt der Händler. Das ist ein erschreckender Gedanke, und Delillo beschreibt, wie stark Marvins Erschrecken ist und wie er sich doch gleich wieder fängt. „Marvin spürte so etwas in seiner Brust, als würde so ein Koreaner im Schlafanzug mit der Handkante einen Ziegelstein zerdreschen. Aber dann dachte er, wie soll ich denn nicht ernst sein? Was könnte ich ernster nehmen als dies hier? Und warum soll man jeden Morgen aufwachen, wenn man nicht versucht, der Wucht der bekannten Kräfte auf der Welt mit etwas Machtvollem in seinem eigenen Leben zu begegnen.“

Ist im Fußball etwas, das machtvoll genug ist, oder wird sich die Hingabe ans Spiel irgendwann rächen? Eine merkwürdige Frage vielleicht, aber wir haben die Säkularisierung des Spiels erlebt. Fußball hat seinen religiösen Gehalt verloren. Ein Stadion ist heute keine Kathedrale mehr, den Gesängen aus den Querschiffen der Fantribünen fehlt die Inbrunst, auf dem Rasen werden keine Glaubenskriege mehr ausgetragen – Fußball ist kein Spiel um Leben und Tod. Warum das so ist, ob das zu begrüßen ist oder nicht, soll hier nicht besprochen werden, aber die Folgen. Denn nun kann kein Ball mehr eine Aura entwickeln, die stark genug ist, den Kräften der Welt etwas Machtvolles entgegenzusetzen. Kein Ereignis auf dem Rasen ist mehr stark genug, daß wir über die Jahre anhand von Gegenständen in Kontakt bleiben wollen. Da ist keine Erleuchtung mehr auf dem Rasen, zu der wir zurückfinden wollen – oder war da nie? Fußball ist ganz zur Alltagskultur geworden und wird an uns Rache üben, wenn wir uns nicht vorsehen. Poetisch oder doch grausam.

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