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„Radikal nach Lebenszeit fragen“

■ Vertrauensarbeitszeit ist im Trend, ebenso der Widerstand. Bei STN und Siemens in Bremen beispielsweise / Ein Betriebsrat über erste Erfahrungen

Bundesweit ist die Vertrauensarbeitszeit, bei der Beschäftigte über ihre Arbeitszeiten selber Buch führen, im Kommen. Während im Siemens-Konzern schon verschiedene Standorte auf Vertrauensbasis arbeiten, wehrt sich die Bremer Siemens-Niederlassung bislang mit Erfolg. Bei STN Atlas Elektronik dagegen wollen die Gewerkschaften DAG und IG Metall die Vertrauensarbeitszeit für MitarbeiterInnen freistellen. Über die Folgen der Vertrauensarbeitszeit sprach die taz mit IBM-Betriebsrat Wilfried Glißmann (IG Metall).

taz: Sie finden es nicht so gut, wenn Arbeitgeber die Stechuhren abschaffen. Warum?

Wilfried Glißmann, IG-Metall-Betriebsrat: So würde ich es nicht formulieren. Eher ist zu fragen, warum Arbeitgeber auf das entscheidende Kontrollmittel verzichten. Und da sage ich, dass durch neue Managementformen und neue Selbstständigkeiten in der Arbeit das Kontrollmittel Stechuhr zum Hindernis wird. Das Arbeiten ohne Ende findet nämlich umso besser statt, wenn nicht mehr geguckt wird: Wie lange habe ich eigentlich gearbeitet?

Gut finden Sie das nicht.

Ich würde sagen, man muß unterscheiden zwischen der Dokumentation der Arbeitszeit – und der Frage der selbstverantwortlichen Einteilung der Arbeitszeit, bei der Mitarbeiter entscheiden, wann sie arbeiten. Allerdings gewähren Arbeitgeber dies, weil es zu einer Dynamik führt, bei der Mitarbeiter in einen Sog geraten, in dem sie länger arbeiten als je zuvor.

Wo liegt der Geburtsort dieser Idee?

In den achtziger Jahren gab es Experimente in den USA, wo ganzheitliche Teams für den unternehmerischen Erfolg ihrer Einheit verantwortlich waren, nach dem Motto: Arbeitet, wann ihr wollt – aber wenn ihr keinen Erfolg habt, wird eure Einheit geschlossen. Es ist eine neue Logik, die Trennung zwischen der fachlichen Arbeit einerseits und der unternehmerischen Arbeit andererseits aufzuheben und das Team für beide Aspekte zuständig zu erklären.

Viele Angestellte wünschen sich, verantwortlich und mehr nach Gusto – statt nach strikten Arbeitsvorgaben – so lange zu arbeiten, bis sie das Projekt im Griff haben.

Das ist in der Tat etwas Tolles, ein Freiheitsgewinn, bei dem niemand mehr loslaufen und den starken Chef fordern kann. Eine abhängige untergeordnete Tätigkeit zu fordern, wäre veraltet. Beim Neuen kommt es aber darauf an, sich mit neuen Problemen auseinanderszusetzen.

Wie sahen die bei IBM aus?

Mitarbeiter können plötzlich nicht mehr aufhören zu arbeiten. Sie haben unternehmerische Probleme vor Augen, die vorher gar nicht so sichtbar waren – wie Erfolg am Markt. Zugleich müssen sie sachlich optimale Lösungen finden. Sie sind also umzingelt von sachlichen Problemen – und erleben einen Druck, der stärker ist als je zuvor. Da kommt es darauf an, innezuhalten und zu fragen: Moment mal, was mache ich hier eigentlich? Man muß über diese Doppelrolle nachdenken, in der man einerseits vom Verkauf seiner Arbeitskraft lebt, andererseits aber Entscheidungen wie ein Unternehmer trifft – obwohl man keiner ist.

Was kann da eine Lösung sein?

Man muß klären: Wofür bin ich verantwortlich – und wofür nicht? Und zwar in einer Zeit der Entgrenzung, wo Arbeits- und Freizeit verschwimmen. Mitarbeiter sind stark mit sich selber konfrontiert, weil sie denken, sie täten es für sich, für ihre Weiterentwicklung. Da ist was dran. Dass die Dynamik sich gegen sie wendet, merken sie oft erst, wenn sie am Ende der Kräfte sind.

Studien zufolge sind besonders männliche Angestellte für unbezahlte Überstunden anfällig. Gehen Frauen mit Vertrauensarbeitszeit anders um?

Frauen erkennen die Ambivalenz eher. Das ist zwar eine gefährliche Verallgemeinerung – aber offenbar ist das Begeisternde, Tolle, diese sichtbare Freiheit, für Männer reizvoller. Frauen behalten ihre verschiedenen Lebensbereiche eher im Blick.

Bei STN fürchtet die IG Metall auch, den Überblick über geleistete Arbeitsstunden zu verlieren.

Ja. Ohne Zeiterfassung wird völlig unklar, wieviel die Menschen arbeiten. Was formell im Tarifvertrag steht, wird quasi Makulatur. Entscheidend ist, sich der tatsächlichen Arbeitszeit zuzuwenden.

Wie wollen Sie dem berechtigten Wunsch nach selbstbestimmterer Arbeit und Arbeitszeit denn entgegenkommen?

In Düsseldorf haben wir beispielsweise eine „I-B-M-Aktion“ gemacht – eine Ich Bewinne Mich-Aktion. Im Jahr darauf hieß die Aktion nach dem Philosophen Stefan Siemens „Meine Zeit ist mein Leben“. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass Arbeitnehmer, die sagen, meine Zeit ist eine Ressource, die ich managen muss, unter den neuen Bedingungen verloren haben.Wenn sie aber umgekehrt sagen: Meine Zeit ist mein Leben – dann müssen sie sich fragen: Akzeptiere ich meine Arbeitszeit wirklich als mein Leben? Wer diese Perspektive in seinen Arbeitsalltag einbringt, hat eine Chance, die Frage der Arbeitszeit und der Freizeit im eigenen Interesse anzugehen.

Müssen Gewerkschaften sich also ein philosophisches Feld zurückerobern, das sie – böse formuliert als Zeitpolizisten – länger aus dem Blick verloren haben?

Das kann man so sehen. Ich persönlich glaube, dass es keine radikal-persönlichere Sichtweise gibt, als sich die Frage nach den eigenen Interessen lebenszeitlich zu stellen. Natürlich läuft es immer auf Kompromisse zwischen Sachzwang und Eigeninteresse hinaus.

Was halten Sie von dem Kompromiss, Einzelnen Vertrauensarbeitszeit freizustellen?

Das muß man betrieblich genau untersuchen. Entscheidend ist, daß der einzelne Mitarbeiter sein eigenes Interesse genau kennt – und dass Betriebsrat und Gewerkschaften ihn darin fördern. Welche Regelung welchen Nutzen hat, muss man laufend prüfen.

Fragen: Eva Rhode

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