: Vom Nullpunkt aus entkommen
■ Frei von festen Bewegungscodes: In „Japan Undercover“ suchen Tänzer und Choreografen nach einem erweiterten Butoh-Begriff
Vierzehn Tage lang trafen sich Butoh-Tänzer und andere Ausdrucksforscher aus Japan, Russland, Kanada, den USA und Westeuropa auf Schloss Bröllin in Mecklenburg-Vorpommern, um in Workshops und einem Symposium die „2000er-Frage“ zu stellen: Wie wird Butoh den Menschen auf dem Weg ins nächste Jahrtausend begleiten?
Das Denken in Jahrtausenden scheint charakteristisch für diese junge Kunst, die gern mit Bildern vom Anbeginn der Zeiten antritt. Vor vierzig Jahren begann in Japan die Suche nach einem Nullpunkt, von dem aus der Körper den westlichen Überformungen ebenso entkommen konnte wie den festgelegten Codes der japanischen Klassik. Seit westliche Künstler diese Befragung des Körpers entdeckt haben, ist Butoh zu einem speziellen Dialekt des Kulturaustauschs geworden. Zu speziell, findet delta RA'i, der 1986 in Berlin das tatoeba-Theater mit gegründet hat und jetzt mit Yumiko Yoshioka zum zweiten „international butoh & related arts – symposium & dance project“ einlud. Jetzt gelte es, sagt delta RA'i, die Entwicklungspotenzen dieser offenen Kunstform, die durch keine Bewegungscodes gebunden ist, auszuschöpfen. Versuchsweise habe man auf dem Symposium von „industrial butoh“ oder „comic butoh“ geredet, um die Ausweitung zu beschreiben.
Beim Programm „Japan Undercover“ werden im Orphtheater Werkausschnitte von japanischen Klassikern wie Itto Morita bis zu kritischen Blicken auf die westliche Zivilisation geboten. Nicht von einem Stil noch von einer einheitlichen Haltung gegenüber der Beobachtung des Lebens kann da die Rede mehr sein: Introspektion und extrovertiertes Ausagieren treten nebeneinander.
So bestreiten die Solistin Maria Reis Lima aus Portugal mit einer Variation über das Vergessen und eine regressive Männergang des Berliner Regisseurs Arthur Kuggeleyn einen Abend. In „Lethes – The river of forgetfullness“ durchquert Lima genau einmal den Raum in der Diagonalen, während sich in der akustischen Kulisse Hubschrauberrotoren drehen und Galaxien durchquert werden. Die Welt ist ihr zu Asche zerfallen, tief sinkt sie in ihren Kokon aus Schleiern. Diese Entleerung von jeglichen individuellen Leidenschaften lässt sich in keiner Zeit mehr verorten.
Kuggeleyns „Nackte Tatsachen“ dagegen beschreibt die Verzerrung des Menschen durch die Konditionierung auf Kampf und Konkurrenz. In Zeitlupe werden die Bewegungen dreier Baseballspieler bloßgelegt, die verbissen um Triumph wetteifern. Eine böse Karikatur, die das bald als Gegner mit einbezogene Publikum heftig belustigte.
Auch in Japan, erzählt delta RA'i, versuche eine jüngere Generation, einer Fixierung des klassischen Butoh entgegenzuarbeiten und mehr Beziehungen zum Alltag, zur Gegenwart und narrativen Formen zu finden. „Butoh wird immer variantenreicher, weil er offen ist, die Geschichte, die in jedem Körper steckt, abzubilden.“ In diesem Sinn ist jeder ein Butoh-Tänzer. Katrin Bettina Müller
Japan Undercover, 4 unterschiedliche Programme. Orphtheater, Ackerstr. 169/170, 26. bis 29.8., jeweils 21 Uhr
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