: Im Osten geht die Sonne unter
Trotz steigenden Energiebedarfs tut sich China schwer damit, die Atomkraft zu fördern – aus nüchternem Kalkül: Kohlewirtschaft ist billig, auch wenn ihre Folgen dramatisch sind ■ Aus Peking Chikako Yamamoto und Georg Blume
Mit den Ideen Deng Xiaopings soll China auch im 21. Jahrhundert regiert werden. Das ist das Leitmotiv der Kommunisten zum 50. Jahrestag der Volksrepublik am 1. Oktober. Doch so oft sich Deng auch zur Zukunft seines Landes geäußert hat, in der Frage der Atomkraft hielt sich der Kleine Steuermann stets zurück. Nur so weit gingen seine energiepolitischen Gedanken, als dass sie „das seit langem bestehende Problem der Trennung zwischen Wissenschaft und Technik auf der einen und der Wirtschaft auf der anderen Seite“ zu überwinden gedachten.
Heute ist China in der Atomwirtschaft einen großen Schritt in die von Deng gewünschte Richtung vorangekommen. Seit der Neuordnung der Branche zu Beginn des Jahres sind Staat und Atomindustrie nicht mehr eins, das ökonomische Kalkül bestimmt mehr und mehr die Energiepolitik. Atomkraft muss auf dem chinesischen Markt wettbewerbsfähig sein, um den Zuschlag der staatlichen Auftraggeber zu bekommen. Früher war das anders. Im nunmehr aufgelösten Energieministerium, das Anfang der Achtzigerjahre alle energiepolitischen Entscheidungen monopolisierte, regierten auch die Vertreter der Atomlobby. Heute aber befindet die Staatliche Planungskommission über den Bau neuer Atomkraftwerke und muss dabei alle Großinvestitionen des Staates gegeneinander abwägen.
„In der Vergangenheit lief der Entscheidungsprozess automatisch auf den Bau von Atomkraftwerken hinaus“, sagt Ho Wai Chi, Leiter des Hongkong-Büros von Greenpeace. „Heute treffen nicht mehr diejenigen die Entscheidungen, die davon profitieren.“
Als Folge der Neuorganisation sind die Prognosen für den Ausbau der Atomkraft in China drastisch zurückgegangen. Hatte das alte Energieministerium noch 1998 vorgesehen, den Nuklearanteil bei der Stromversorgung von heute knapp einem Prozent auf zehn Prozent im Jahr 2010 zu heben, so setzt die Staatliche Planungskommission den Nuklearanteil nur noch auf fünf Prozent an – und zwar für das Jahr 2020. Kürzlich wurde sogar ein Moratorium für den Bau neuer Reaktoren verkündet, das bis ins Jahr 2002 gilt. Ziel der neuen Politik ist es, die Atomkraft auf kleiner Flamme als Energieralternative am Leben zu halten, aber dabei keine Milliardensummen in unrentable Kraftwerke zu pumpen.
Tatsächlich befindet sich die Atomenergie in der Volksrepublik in der Entwicklungsphase. Erst drei Reaktoren sind derzeit in Betrieb. Zwei davon entstanden unter Leitung des französischen Kraftwerkbauers Framatome am Standort Daya Bay in der Nähe Hongkongs. Beim dritten Reaktor am Standort Qinshan bei Shanghai, der bereits 1991 in Betrieb genommen wurde, spielte die Wirtschaftlichkeit eine untergeordnete Rolle.
Der kleine 300-MW-Reaktor gilt als chinesische Pionierleistung, besteht jedoch im wesentlichen aus Zulieferteilen des amerikanischen Westinghouse-Konzerns und Framatomes. Qinshan machte im Juli Schlagzeilen, als mit einem Jahr Verspätung ein größerer Zwischenfall in einem chinesischen Atomkraftwerk bekannt wurde. Erstmals wurde in diesem Fall ein chinesischer AKW-Unfall der Internationalen Atomenergieorganisation in Wien gemeldet. Seitdem dient das Qingshan-Werk seinen Betreibern von der Chinese National Nuclear Corporation (CNNC) als Beispiel für ihr gutes Benehmen. Unter Beweis gestellt sei nun, dass China sich heute den weltweiten Regeln beugt und als verlässliches Mitglied der internationalen Atomindustriegemeinde zählen darf.
So möchten es auch die westlichen Atomkonzerne sehen, die in China seit langem einen Zukunftsmarkt wittern. Auf der einen Seite sind Firmen wie Framatome, Westinghouse und Siemens zwar enttäuscht, dass aus dem großen Reaktorpark, den man sich in China erträumt hatte, vorerst nichts wird. Nur sechs Reaktoren befinden sich derzeit im Bau.
Auf der anderen Seite aber ist den ausländischen Firmen nicht entgangen, dass sich die Philosophie des chinesischen Atombetriebs komplett gewandelt hat – und zwar nicht zu ihren Ungunsten. So ist in China nicht mehr von nuklearer Autarkie die Rede. Es geht nicht mehr um das Prestige der chinesischen Ingenieure, die mit dem Westen gleichziehen wollen. Und ausländische Atommanager müssen nicht ständig fürchten, dass ihnen der chinesische Partner technologische Geheimnisse entwenden will. Ausschlaggebend ist, wie schnell und wie billig der Strom fließt. Für die Verantwortungsträger in der Staatlichen Planungskommission ist nun zweitrangig, wer welches Kraftwerk baut. Hauptsache, das Wirtschaftswachstum wird nicht durch Energieknappheit gebremst.
Dahinter verbirgt sich jedoch kein Persilschein für die Atomindustrie. Ihr Problem sind in China die Kosten. Ein Konzern wie Siemens bietet bei entsprechend schwachen Umweltauflagen ein nagelneues Kohlekraftwerk zum Preis von annähernd 800 $/kW an. Kein Atomkraftwerkshersteller kann da mithalten. Angeblich sollen die neuen französischen Reaktoren am Standort Daya Bay bereits für 1.500 $/kW installiert werden, was immerhin ein Drittel billiger als bisher wäre. Aber damit ist Framatome immer noch doppelt so teuer wie die Kohle.
Atombefürworter in China weisen deshalb auf die dramatischen Folgen der Kohlewirtschaft hin. Dreiviertel des gesamten Energiebedarfs werden mit dem schwarzen Gold abgedeckt. Ob am sauren Regen in Japan oder an der Luftverschmutzung in Chinas Großstädten – die Hauptschuld trägt die Kohle. Unvorstellbare 85 Prozent des chinesischen Schienenverkehrs bestehen nur aus Kohletransporten: Weil sich die Vorkommen im Norden befinden und der Verbrauch im Süden am höchsten liegt, müssen die Kohlezüge durch das ganze Land rattern.
Es gibt folglich eine Unzahl guter Argumente, auf andere Energieträger umzustellen. Aber die Umstände sprechen dagegen: Das arme Entwicklungsland China verfügt über auf viele Jahrzehnte unerschöpfliche Kohlereserven, die billig abzutragen sind. Millionen Arbeitsplätze hängen von der Kohlewirtschaft ab.
„Zwar haben ,saubere‘ Energierträger wie Erdgas, Atom und Wind heute die allgemeine Unterstützung der Regierung“, sagt Karl-Eugen Feifel, General-Manager des deutschen Windradherstellers Nordex in China, „und im nächsten Fünfjahresplan bis 2005 gibt es ehrgeizige Zielvorgaben für alternative Energien. Doch es ist unwahrscheinlich, dass sie erfüllt werden. Die Stromknappheit ist derzeit weniger groß als befürchtet.“ Schon erreicht Feifel der Hilferuf ehemaliger Atommanager, die nach einem Job in einer anderen Branche suchen.
So wird die große Hoffnung der im Westen langsam verschwindenen Atomindustrie, dass für sie im Osten die Sonne noch einmal aufgeht, wohl vorerst unerfüllt bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen