: Aktualisierte Wahrheit
Zwei neue deutsche Filme über den Nationalsozialismus: der linolschnitthafte „Viehjud Levi“ von Didi Danquart und Roland Suso Richters „Nichts als die Wahrheit“, eine mutige politische Demonstration ■ Von Niklaus Hablützel
Als die Nazis kamen, lebten hoch oben im Schwarzwald sture Dickschädel, die von ihnen nichts wissen wollten. Aber auch sie ließen sich einschüchtern und schließlich vergiften vom braunen Judenhass aus dem fernen Berlin. So erzählt der Regisseur Didi Danquart von einem Verhängnis, das damals über das Land hereinbrach. Auf der letzten Berlinale galt sein „Viehjud Levi“ als Geheimtipp, die Jury des Deutschen Filmpreises ernannte den Schweizer Bruno Cathomas in der Titelrolle alsbald zum besten Hauptdarsteller, und der Bundesverband für kommunale Filmarbeit schließlich verlieh dem von mehreren Fernsehsendern und staatlichen Stellen geförderten Film seinen „Caligari“-Preis.
Erwähnenswert ist das, weil es die Frage aufwirft, wie heute im deutschen Kino die Zeit des Nationalsozialismus verarbeitet wird. So offenbar, wie Danquart, der 44 Jahre alte Dokumentarfilmer und einstige Mitbegründer der Freiburger Medienwerkstatt, das Thema behandelt, und vielleicht mehr noch so wie das Theaterstück des jung verstorbenen Thomas Strittmatter, das ihm als Drehbuchvorlage dient: so hat es den namhaften Instanzen der Kritik und der Geldvergabe sehr gut gefallen.
Ganz anders dagegen im Fall von Roland Suso Richters Film „Nichts als die Wahrheit“, der heute in den Kinos anläuft. Ein paar spärliche öffentliche Fördermittel flossen erst, als der Hauptdarsteller Götz George auf seine Gage verzichtet und eine Million Mark zusätzlich in das Projekt vorgeschossen hatte. Auch die anderen Mitwirkenden stellten ihre Gagen zunächst zurück. Als Geheimtipp unter Cineasten gilt das Ergebnis dieses Idealismus bisher dennoch nicht. Gut möglich deshalb, dass Richters Film auch an den Kinokassen leer ausgehen wird. Dafür lassen sich viele Gründe anführen, ästhetische und dramaturgische. Einige andere jedoch geben zu denken. Der beste Hauptdarsteller des Jahres 1999 spielt einen Juden im Jahr 1933, Götz George den KZ-Arzt Josef Mengele ungefähr im Jahr 2000, also heute. Der eine, stark geförderte Film ist ein Heimatfilm in einer „anderen Tradition“, wie sein Regisseur sagt, der andere, nur unwillig geförderte, will ein Politthriller sein. Das ist er nicht, wohl aber ein politisches Gedankenexperiment. Was wäre, wenn die Täter noch sprechen könnten?
Richter und sein Hauptproduzent Werner Koenig stützen sich auf ein amerikanisches Buch, das sich im Rahmen der historischen Fiktion bewegt, einer im angelsächsischen Sprachraum besser als hierzulande etablierten Tradition. Josef Mengele lebt, lautet der Plot. Schwer erkrankt kehrt der „Todesengel von Auschwitz“ nach Deutschland zurück, um Rechenschaft abzulegen in einem Strafprozess nach heutigem deutschem Recht. Mengele also, ausgerechnet Mengele, der größenwahnsinnige Pfuscher, will die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wie er sie versteht. Nur lässt die deutsche Strafprozessordnung die Spannungsbögen des klassischen, amerikanischen Gerichtsfilms nicht zu.
Richter und Koenig wissen das. Den Thriller lassen sie vor dem Gericht spielen und verlieren viel Zeit damit, einen jungen, aufstrebenden Anwalt vorzustellen, der ein leidenschaftliches Interesse an Mengeles Biografie entwickelt hat. Dunkelmänner der äußersten Rechten, die auch später noch entbehrliche Nebenrollen spielen, lassen ihn in das lateinamerikanische Asyl des obskuren Objekts seiner Forschungen entführen. Dort endlich findet der Film sein Thema. Götz George tritt auf, kaum kenntlich unter einer unbeweglichen Gesichtsmaske, die jeden anderen Schauspieler daran gehindert hätte, irgendeine Person glaubwürdig darzustellen. Nicht aber Götz George. Schicht für Schicht enthüllt er ein Monstrum.
Natürlich ist Mengele in den Augen Mengeles kein Unmensch. Vielmehr hat er sein Leben dem Ideal der reinen medizinischen Wissenschaft gewidmet, daher sogar der höchsten Form der Menschlichkeit. So spricht er in Südamerika, und so wird er auch sprechen vor dem Gericht in Deutschland, wohin er nach einigen weiteren Handlungsturbulenzen zurückkehrt, und sein Freizeitbiograf wird ihn verteidigen nach allen Regeln seines Berufs. Das kostet ihn zwar sein Eheglück, aber auch er, der liberale Anwalt, ist ein Fanatiker der ganzen Wahrheit.
Noch einmal steht sie zur Debatte, die Wahrheit über den Nationalsozialismus, die wir längst zu kennen glauben. Mit erstaunlichem politischen Mut führt Richter vor, wie bequem dieser Irrtum ist. Denn Mengele stand nie vor Gericht. „Wissen Sie es denn nicht“, antwortet er, als ihn Peter Roggisch als Staatsanwalt auffordert, Auschwitz zu beschreiben, „es war ein Vernichtungslager.“ Zu nichts anderem war es gebaut worden, daher der Idealfall eines medizinischen Labors, lässt George seinen Mengele sagen, schon die Frage nach der Schuld ist verfehlt. Mit der Würde des Greisenalters führt ein Fachmann aus, was im Dienst der Sache zu tun war und immer zu tun sein wird. Selten sind die Täter derart bedrängend zu Wort gekommen. Dass sie tatsächlich pflichtbewusste Sachwalter einer Idee sein wollten, wissen zwar die Historiker. Richter jedoch stellt die Frage, ob wir sie heute erkennen würden.
Wahrscheinlich nicht, lautet seine Antwort, und sie macht seinen Film zu einer politischen Demonstration. Mengeles Sache nämlich steht in dem fiktiven Prozess so gut, dass sein Anwalt ihn abbrechen muss. Er fällt aus der Rolle und spricht das Urteil selbst. All die Argumente, die Mengele für seine medizinischen Experimente anführt, gelten noch heute. Nicht für Auschwitz, aber für Ärzte, und so muss Kai Wiesinger als Verteidiger schwitzend und händeringend in den Gerichtssaal herausschreien, dass sie nicht wahr sein dürfen – es sind die Argumente eines Ungeheuers.
Die Beobachtung, dass die Medizin fatale Traditionen zum Nationalsozialismus unterhält, ist nicht neu. Mengeles Verurteilung durch seinen eigenen Wahlverteidiger aber inszeniert sie in einer bestechend knappen, neuen Form für das Kino. Andere Aktualisierungsversuche, die Richter für nötig hielt, die Neonazis etwa, die anfangs auf dem Berliner Gendarmenmarkt für ihr Idol demonstrieren, sind dagegen so belanglos wie andere Teile der missglückten Rahmenhandlung. Sie gehören zur Folklore des Nationalsozialismus, die dieser Film sonst gründlich demontiert.
Die Hakenkreuze sind es nicht, die zurückkehren könnten. Sie lassen sich aus sicherer Distanz betrachten, und wenn es irgendwie möglich gewesen wäre, hätte Didi Danquart seinen Film über den Juden Levi in Linol geschnitten. So malt er stattdessen in erdigen Tönen die Hügel des Schwarzwaldes und unendlich liebevoll die Gesichter der Bauern aufs Zelluloid. Ein große Ruhe herrscht in seinem Film, der voranschreitet wie das Ticken der Uhr in der guten Stube. Die keimende Liebe zwischen der Bauerntochter Lisbeth und dem jungen Viehhändler Levi liefert den Handlungsfaden, der jäh zerrissen wird durch die Ankunft der neuen Welt, die aus der fernen Großstadt kommt und verkündet wird von dem flotten Ingenieur Kohler und seinem Flittchen, dem Fräulein Neuner. Ein halb zerfallener Eisenbahntunnel soll wieder hergestellt werden, so verlangt es die neue Herrschaft. Die Bauern trauen ihr nicht, aber die Männer von der Bahn machen sich grölend breit im Gasthaus, und am Ende ist der Jud an allem schuld. In Strittmatters Theatervorlage kommt er zu Tode, hier im Film kann er fliehen und fährt in seinem Auto in die einsame Nacht hinaus.
„Was bist du nur für ein Mensch?“, hat ihn Eva Mattes vorher einmal gefragt, die Bäuerin und Mutter seiner in keuscher Liebe Angebeteten. Vor allem diese Frage nach dem Juden wäre eine Antwort wert gewesen. Danquart verweigert sie. Unmenschen sind die Nazis hier auch nicht, nur dumpf oder hochnäsig wie Ulrich Noethen als Ingenieur Kohler. Gerhard Olschewskis Horgerbauer, der Gastwirt und die Knechte sind ihre ein wenig schwerfälligen Opfer, unfähig zu begreifen.
Wer aber ist der Jude? Die angestrengte Stilisierung des Films erdrückt die Frage, schon bevor sie richtig gestellt werden kann. Cathomas spielt einen balladesken Paradiesvogel in Hut und Anzug, seine Geschäfte mit den armen Schwarzwäldlern gehen auch unter den Nazis noch so gut, dass er in den paar Wochen der Spielhandlung vom Fahrrad mit Anhänger zum eigenen Lastwagen umsteigen kann. „Ein Nichts, ein Niemand“ sei er, beschimpft ihn der Bahningenieur. Der Film gibt ihm recht. Der Jude Levi ist niemand, er ist nur eine Konstruktion, an der sich mehr als an allen anderen zeigt, wie sehr sich Danquart und Strittmatter in ihre eigenen Märchen eingesponnen haben. Nicht einmal ein Dorf ist zu sehen, in denen ihre Spielfiguren eine Gesellschaft bilden könnten. In einem Interview hat der Regisseur diesen auffälligen Mangel mit dem Wunsch begründet, sich ganz auf seine Erzählung zu konzentrieren.
Das Ergebnis ist eine seltsam kokettierende Reduktion der Gesellschaft auf ihre Topologien und Symbole. Der Wille zur Kunst ersetzt die Suche nach den Gründen. Da ist der Berg, dort die Stadt, hier die Tradition, dort das Neue – außer den Nazis wird es auch noch von einem Herumtreiber verkörpert, Levis Rivalen bei der unglücklichen Lisbeth (Caroline Ebner). Bernd Michael Lade spielt ihn. Es ist ein Vergnügen, ihm zuzuschauen, aber mehr als ein weiteres Ornament des Stillebens darf auch er nicht werden. Er berlinert, verärgert die Nazis und schwingt am Ende die Axt doch nur hilflos gegen alle und niemanden. Nichts davon wächst zu jenem Drama aus, das allein beschreiben könnte, was in dieser abgeschlossenen Welt geschah, als die Nazis kamen.
„Viehjud Levi“ fragt nicht nach der Geschichte und schon gar nicht nach der Politik. Roland Suso Richter und Götz George haben wenigstens versucht, die Vergangenheit mit einer gewiss gewaltsamen Fiktion in die Gegenwart zurückzuholen, Danquart und Strittmatter dagegen halten die Zeit an in einer nicht weniger fiktiven Projektion des einfachen Lebens auf dem Lande. Das eine tut niemandem weh, das andere allen. So betrachtet, ist die ungleiche Verteilung der Fördergelder verständlich, klug ist sie nicht.
„Nichts als die Wahrheit“. Regie: Roland Suso Richter. Darsteller: Götz George, Kai Wiesinger, Peter Roggisch; Deutschland 1998 „Viehjud Levi“. Regie: Didi Danquart. Darsteller: Bruno Cathomas, Caroline Ebner, Bernd Michael Lade, Ulrich Noethen, Eva Mattes, Gerhard Olschewski; Deutschland 1998
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