: Erfrischende Zeichen im Wahlfieber
■ Die Schulpolitik der SPD war von Reformstau geprägt. Kurz vor der Wahl gibt sich die Partei bemerkenswert experimentierfreudig
Der Ruck kam spät, aber er kam. In dem neunzigseitigen Strategiepapier, das eine SPD-nahe Kommission Ende August vorlegte, präsentierte sich sozialdemokratische Bildungspolitik à la Berlin plötzlich ganz ungewohnt: So standen im Abschlussbericht des Expertengremiums „Berliner Bildungsdialog“, den der frühere sächsische Bildungsstaatssekretärs Wolfgang Nowak geleitet hatte, Forderungen wie diese: generelle Einführung des Abiturs nach zwölf Jahren Schule, stärkere Differenzierung in den fünften und sechsten Grundschulklassen.
Die Begründung: Schon in den Grundschulen werde die Schülerschaft immer heterogener; selbst Schulanfänger hätten bereits völlig verschiedene sprachliche, soziale und naturwissenschaftliche Kompetenzen. Außerdem, so die Kommission, sollen die Grundschulen transparenter werden, so dass die Leistungsstandards und die Lernziele auch für Außenstehende verständlich seien.
Als die Ergebnisse der einjährigen Arbeit der Kommission vorgestellt wurde, sprach sich Fraktionschef Klaus Böger für zentrale Prüfungen aus. Er forderte größere Selbstständigkeit für die Schulen und mehr Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Böger folgte der Empfehlung der Kommission, an Grundschulen nicht mehr als vierzig Prozent Kinder nichtdeutscher Herkunft zuzulassen. Auch dass Kinder gelegentlich mit Bussen in andere Stadtteile gebracht würden, sei nicht auszuschließen. Die CDU traute kaum ihren Ohren. Die Grünen lobten das Papier.
Alle fragten sich, warum angesichts von soviel Experimentierfreudigkeit die Berliner Schulpolitik unter der Ägide der SPD vier Jahre lang vor allem von Stillstand und Reformstau geprägt war. Am Ende ihrer Amtszeit kann Ingrid Stahmer, die 1995 als gescheiterte Spitzenkandidatin unfreiwillig und offenbar etwas unmotiviert das Amt der Senatorin übernahm, nicht gerade auf eine Liste von Erfolgen zurückblicken: Zwar eröffneten einige Europaschulen. Die Grundschulreform 2000 wird überwiegend begrüßt. Die eine oder andere verlässliche Halbtagsschule ist entstanden. Doch im Großen und Ganzen kommt die Schulpolitik aus den Negativ-Schlagzeilen nicht mehr heraus.
Drei Wochen nach Schuljahresbeginn waren 120 von 400 neu geschaffenen Lehrerstellen nicht besetzt. Fast gleichzeitig brachte die Veröffentlichung der ersten Berliner Statistik zum Unterrichtsausfall ans Licht, dass in jeder Woche 19.000 Unterrichtsstunden ersatzlos wegfallen. Will die Schulverwaltung LehrerInnen versetzen, um sie dort einzusetzen, wo sie benötigt werden, führt das regelmäßig zu Proteststürmen – selbst wenn kein Umzug von West nach Ost ansteht.
Auch die lang angekündigte „Lehrerfeuerwehr“, die stadtweit die schlimmsten Ausfälle abfedern sollte, scheiterte kläglich am Widerstand der LehrerInnen. Fachlehrer in manchen Fächern sind zur Mangelware geworden, Berufsschullehrer kaum noch auffindbar.
Nun kann die Verwaltung nichts dafür, dass LehrerInnen älter werden und häufiger krank. Der Mangel an Nachwuchs allerdings ist teilweise selbst gemacht: Es war der Berliner Senat, der das Geld für Referendarstellen radikal kürzte. Es war der Berliner Senat, der im Oktober 1997 den 730 Referendaren in der Stadt mitteilte, keiner von ihnen werde in den Schuldienst übernommen. Seither bemühen sich viele Uni-AbsolventInnenen gleich lieber woanders um eine Stelle. Da konnten die VertreterInnen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft noch so oft vorbeten, dass bis zum Jahre 2010 nahezu fünfzig Prozent der Berliner LehrerInnen in den Ruhestand gehen werden.
Seit die ersten Bonner an den Umzug nach Berlin zu denken begannen, hielt die Berliner ersatzweise ein Streit um den Erhalt der sechsjährigen Grundschule auf Trab. Als Stahmer einwilligte, an sieben Gymnasien zusätzliche fünfte Klassen zuzulassen, um die Bonner Kinder, die bereits das Gymnasium besuchten, nicht zurück auf die Grundschule schicken zu müssen, scheiterte sie an der eigenen Fraktion.
Das Argument: Wer einmal anfange, zu viele Ausnahmen zuzulassen, senke das Niveau der sechsjährigen Berliner Grundschule. Zu viele Eltern zögen vor, ihre Kinder möglichst früh auf das Gymnasium zu schicken. Irgendwann sorgte sich gar Außenminister Joschka Fischer persönlich um den zu erwartenden Bildungsstandard für Diplomatenkinder, die nach Berlin zureisen.
Eine weitere Niederlage bescherte das Berliner Verwaltungsgericht der Senatorin, als es urteilte, die Islamische Föderation dürfe islamischen Religionsunterricht an Berliner Schulen erteilen. Eilig begann man in der Schulverwaltung, an einem Konzept für ein staatliches Fach Islamkunde zu arbeiten, wie es Vertreter des Türkischen Bundes schon seit Jahren vergeblich gefordert hatten.
Bis Schuljahresbeginn wurde das Modell nicht fertig. Es steht zu befürchten, dass die Islamische Föderation als Erste startet. Die ersten Verfassungsklagen gegen das neue Fach sind bereits angekündigt, da sich die Schulen sich mit einem Fach „Islamkunde“ doch sehr nah an den Religionsunterricht heranwagen, der den Religionsgemeinschaften vorbehalten ist.
Angesichts dessen werteten nicht nur Anhänger der SPD die Ergebnisse des „Berliner Bildungsdialogs“ als erfrischendes Zeichen. Ob es der SPD allerdings vergönnt sein wird, sich eine weitere Legislaturperiode lang mit einem Senatsmitglied im Bildungsbereich zu tummeln, gilt zur Zeit als unsicher. Sicher hingegen dürfte sein: Wenn Schulverwaltung, dann ohne Ingrid Stahmer.
Jeannette Goddar
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