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Unsympathische Echtmenschen

Mit sechs neuen Folgen der Dokumentarfilmserie „Berlin – Ecke Bundesplatz“ schließt die Langzeitbeobachtung von Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich  ■   Von Michael Rutschky

In der Regel ist es unmöglich, gegen dokumentarische Langzeitprojekte Einwände zu erheben. Die Lebenszeit der Beteiligten selbst hat sich in ihnen ausgegeben, irreversibel – wer da mit Vorbehalten statt inniger Anteilnahme und Enthusiasmus reagiert, entlarvt sich selbst als Lebensfeind. Es passt dazu, dass die Kritik, die das große Golzow-Projekt von Barbara und Winfried Junge – in der DDR begonnen – unterdessen immer heftiger auf sich zieht, sich vor allem gegen den vorwurfsvoll-erzieherischen Gestus des Interviewers und Kommentators richtet; während das unaufhaltsam abrollende Leben der in ihren Verhältnissen verkeilten, sich nur so mühsam fortbewegenden Dörfler eine Anmut und Würde abstrahlen, die dem Zuschauer die Tränen in die Augen treiben. Ein Buch muss übrigens als Ursprung dieses frommen Dokumantarismus gelten: James Agees „Let Us Now Praise Famous Men“ (1941) mit der berühmten Fotostrecke von Walker Evans.

Mir sind die ersten Etappen von Detlev Gumms und Hans-Georg Ullrichs Langzeitstudie „Berlin – Ecke Bundesplatz“, die 1987 und 1995 und 1998 ausgestrahlt wurden, entgangen. Den beiden ersten Folgen der neuen Staffel – „Der Aussteiger“ sowie „Wilmersdorfer Witwen“ – fehlt jedenfalls jener fromme amerikanische Enthusiasmus durchaus. Glücklicherweise auch Winfried Junges Vorwurfsprosa; anfangs meint man, der Film verzichte (wie es angesagt ist) überhaupt auf Off-Erzählung, dann kommt sie aber doch, sehr sparsam und merkwürdig ungeschickt formuliert.

Nein, kein Enthusiasmus à la Walt Whitman oder Golzow: Das Wilmersdorf von Gumm und Ullrich ähnelt dem Paris der kleinen Leute, das René Clair von „Sous les toits de Paris“ (1929) bis „Porte de Lilas“ (1956) ebenso sagenhaft wie niedlich durchstilisiert hat; immer wieder wollte ich in der Filmmusik zu Wilmersdorf den obligatorischen Usette-Walzer erkennen und erwartete, während die Kohlenmänner die Kohlen abluden und der Gaslaternenanzünder die Gaslaterne anzündete, ein Chanson von Georges Brassens – sie kamen aber nicht.

Und die Hauptpersonen: Ich muss gestehen, dass sie mir etwas einflößten, das ich mit diesem Genre Dokumentarfilm für schlechterdings unvereinbar gehalten hätte, nämlich Abneigung. Keine Spur jener Tränen, die ich um Onkel Willy aus Golzow und seinesgleichen so leicht und gern vergieße. Hier möchte man kalt resümieren: Dies waren typische Hauptpersonen im eingemauerten Westberlin; in der geöffneten Stadt verlieren sie alle Repräsentativität.

„Der Aussteiger“, unterdessen fast 70, wenn ich richtig verstanden habe (er ist zu eitel, um sein Geburtsjahr offen zu nennen und über sein Altern in die Kamera zu sprechen), war mir aus den Sechzigern dem Namen nach wohlvertraut: damals ein vielversprechender linker Literat. Jetzt stoße ich auf seinen Namen nur noch bei meinen Leserbriefforschungen.

Sein Zentralproblem – wie es der Film, dem Genre entsprechend, beinahe absichtslos enthüllt – ist eine manische Besserwisserei und Rechthaberei. Ob er demonstrativ Holunderbeeren im Park erntet (während die verführten Konsumbürger Kiwis im Supermarkt kaufen), seine kaputte Lederjacke huldreich grüßend zum türkischen Flickschneider bringt; ob er Diskussionsrunden über Ausländerfeindlichkeit in seiner Wohnung veranstaltet oder einer nackten Freundin eine Massage verabreicht: Stets tritt er als imaginärer Präsident des Erdballs, als geheimer Generalsekretär für Genauigkeit und Seele auf, der in seiner unerschöpflichen Großmut den Sachverhalt einfach ignoriert, dass sich die irregeleitete Menschheit nicht längst besonnen und ihm auf dem rechten Weg angeschlossen hat.

Wie gesagt, mit dem Untergang des fiktiven Westberlins verlieren auch solche Existenzen ihre Symbolkraft. Das Verhängnis dieses imaginären Generalpräsidenten muss eine Spezialbegabung gewesen sein: eine außerordentliche Beredsamkeit, die sich einer höchst angenehmen, wohlmodulierten Stimme bedienen konnte. Zeit seines Lebens, stelle ich mir vor, hatte er die Leute bequatscht. Bevor er selber wusste, wozu.

Anders als dieser Generalpräsident, der aus dem Bildungsbürgertum stammt, kommt die „Wilmersdorfer Witwe“, die alte Frau Tomaschefski – sie starb mit 95 während der Filmarbeiten – aus dem ostpreußischen Proletariat. Was sie mit dem bildungsbürgerlichen „Aussteiger“ aber teilt und ebenso unsympatisch macht: die manische Besserwisserei; ein Kontrollzwang treibt sie, der sich auf Hausarbeiten ebenso wie die Betreuung alter Freundinnen richtet, aus deren zunehmender Hinfälligkeit sie unverkennbar große Befriedigung zieht.

„Schön ist die Juhugend, sie kommt nicht mehr!“, singt sie dröhnend und wagt dazu ein morgendliches Tänzchen in ihrer mit scheußlichen Stilmöbeln angefüllten Wohnung, und dies ist das Problem: was sie manisch abwehrt, das ist das Altern. Singt und tanzt sie ihre Juhugend nicht gerade ungehemmt herbei?

Wäre da nicht der Klassenunterschied, die manische Frau Tomaschefski könnte die Mutter des imaginären Generalpräsidenten sein. Ich kenne solche (Krieger-) Witwen aus meiner Kindheit. Mit unerschöpflicher Herrschsucht und ungebremsten Ehrgeizfantasien zogen sie ihre Söhne und Töchter groß (die sich vor der Tyrannei zu keinem Vater flüchten konnten), Söhne und Töchter, die kurz nach dem Abitur Selbstmord verübten oder einen schizophrenen Schub erlitten – oder nach Westberlin gingen, wo sie sich einer besonders dogmatischen K-Gruppeanschlossen, dann einer religiösen Sekte. Heute praktizieren sie so einen ökoostasiatischen Lebensreformkult, mit feinem Lächeln.

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