: Pina Bauschs langer Schatten
■ Den mütterlichen Grund durchbeißen: Auf den Festwochen zeigt das Wuppertaler Tanztheater „Café Müller“ und „Frühlingsopfer“
„Das Frühlingsopfer“ zu Strawinskys Musik wischte 1975 letzte Zweifel an Pina Bauschs choreografischen Fähigkeiten aus: Alles, was das Ballett an großen Gefühlen fordern konnte, erhielt es hier von Schnörkeln und Arabesken befreit zurück. Dass sich die Choreografin dennoch für eine andere Befragung des Körpers und Geschichten aus der Gegenwart entschieden hatte, bewies „Café Müller“ 1978: Nach einem umstrittenen Anfang in Wuppertal begann so ihr Weg zu weltweitem Erfolg und Anerkennung.
Auch nach über zwanzig Jahren haben sich diese Klassiker nicht verbraucht. Noch immer gleicht „Das Frühlingsopfer“ einer Initiation, mit der junge Tänzer aus aller Welt in das große Ensemble eingeschmolzen werden und sich einmal durch den mütterlichen Grund, das expressive Erbe, beißen müssen. Glieder schüttelnd und schleudernd stampfen Frauen und Männer den mit Torf bedeckten Boden. Als sei der letzte Dinosaurier eben erst verschwunden, ist die Erde wüst und leer. Wo immer aber die Körper sich Schutz suchend zusammendrängen, spuckt der Haufen sie bald wieder aus: Schrecken, Panik, Zähneklappern! Dem unausweichlichen Ritual, das am Ende ein Opfer verlangt, entkommt man in dieser Choreografie nicht. Man leidet mit den Tänzern an ihrer Raserei.
Nichts mehr ist von diesem kollektiven Rausch in „Café Müller“ zu spüren. An die Stelle der einen Welt ist eine Vielzahl von Monaden getreten. Wir sehen drei Frauen und drei Männer zwischen leeren Stühlen und Tischen. Ob sie sich auch in einer gemeinsamen Zeit bewegen, ist dagegen zweifelhaft. Pina Bausch tanzt selbst wie ein langer Schatten, der im Hintergrund der Szene den Aufregungen vorne manchmal wie ein müdes Echo folgt: als ob sie sich vor zwanzig Jahren schon ein Stück geschrieben hätte, mit dem man langsam alt werden und den Erinnerungen nachhängen kann.
Heute ist kaum noch nachvollziehbar, dass man in diesen taumelnden und tastenden, stolpernden und stöckelnden Bewegungsbildern anfangs den Tanz vermisste. Viel Vertrautes steckt in den Figuren: Da ist der, der umso mehr Chaos verbreitet, je hilfreicher er agieren will, der Tische und Stühle umwirft, um einer durch ihre Träume Schlafwandelnden Platz zu schaffen. Sie, die immer nur umarmt sein will, umfängt ihren Partner wie ein Klappmesser. Ein anderer baut diese Umarmung um in ein Bild, in dem die Frau wie eine Verletzte getragen wird.
Was Anfang und Ende einer Geschichte sein könnte, wiederholt sich schneller und schneller bis zur komischen Verkürzung: Das ist der Stoff, aus dem die Bewegungen kommen. Katrin Bettina Müller
Heute, 20 Uhr, morgen, 17.30 Uhr, Schiller Theater, Bismarckstr. 110
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